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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Autoren: Ralf Isau
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Sie wusste selbst nicht, warum ihr der Mut fehlte, es laut auszusprechen.
    Mit einem Mal senkte sich der Bleistift auf das Papier. Pala hielt den Atem an. Wenn Nonno Gaspare wenigstens schreiben könnte…!
    Aber anstatt einen Satz oder auch nur ein einziges Wort zu Papier zu bringen, malte der Alte etwas, das wie ein Dreieck oder wie eine Pyramide aussah, und obenauf setzte er eine Art Krone.
    Der Arzt und seine Notfallhelferin tauschten ratlose Blicke. Jetzt waren sie diejenigen, denen das Verständnis fehlte. Zwar hatte der Geschichtenerzähler einen Weg gefunden zu ihnen zu »reden«, aber was bedeutete seine Bildsprache?
    Während sie sich ansahen, bemerkten Dottore Stefano und Pala aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Gaspare hatte sich von der Bank erhoben und deutete zum Festungsberg hinauf, ganz nach oben, dorthin, wo die Ruinen der alten Burg aufragten.
    Mit einem Mal verstand Pala das Bild. Das Dreieck war der Berg und die Krone stand für die Zinnen der oberen Festungsmauer. Als sie nun ebenfalls zur Zitadelle zeigte, nickte Gaspare schnell.
    »Wenn ich nur wüsste, was er meint«, grübelte der Doktor und rieb sich die Glatze. Den Blick hatte er wie die anderen zur Festung nach oben gerichtet.
    »Was an dieser Burg macht Nonno Gaspare sprachlos?«, murmelte Pala, als wäre das Ganze ein Rätselspiel. Als Expertin auf diesem Gebiet brauchte sie nicht lang, um einen ersten Lösungsvorschlag anzubieten.
    »Zitto!«, stieß sie hervor.
    Dottore Stefano schüttelte zweifelnd den Kopf. Besagter Zitto gehörte zu den angesehensten Honoratioren der Stadt, wenngleich den öffentlichkeitsscheuen Mann niemand je richtig angesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen hatte. »Was soll der Eigentümer des Schlossberges mit der Sprachlosigkeit eines alten Geschichtenerzählers zu tun haben?«, brummte der Arzt.
    So schnell wollte sich Pala nicht geschlagen geben. Sie glaubte sich der Wahrheit jetzt ganz nahe. Ihre Worte überschlugen sich fast, als sie aufgeregt hervorsprudelte: »Primo – Sie wissen schon: Nonno Gaspares ältester Sohn –, der ist doch vor kurzem in die Hauptstadt gezogen. Das hat seinem Vater fast das Herz gebrochen. Könnte er dadurch nicht die Sprache verloren haben?«
    Dottore Stefano massierte noch immer die kahle Stelle im Zentrum seines buschigen Haarkranzes. Langsam begann er zu nicken. »Möglich wäre so etwas schon. Ich weiß noch, wie überstürzt Primo abgereist ist. Er hat mir selbst erzählt, wie überrascht er war, als ihm der gut bezahlte Posten in einer von Zittos Fabriken angeboten wurde. Seine anderen beiden Söhne hat Gaspare ja schon vor längerem aus der Stadt vergrault. Jetzt könnte ihm mit einem Mal aufgegangen sein, wie einsam er ist.«
    »Aber er hat doch mich«, widersprach Pala empört.
    Der Doktor lächelte nachsichtig und strich ihr mit seinen bepuderten Handschuhen über das Haar. Wohl in der Annahme, Pala trösten zu müssen, sagte er: »Er mag dich ohne Frage gut leiden, mein Kind, doch Blut ist eben dicker als Wasser. Weil seine Söhne ihm mehr als alles sonst fehlen, könnte in seinem Kopf sozusagen ein Rollladen heruntergefallen sein und das Licht der Sprache ausgesperrt haben.«
    Diesen Vergleich konnte Pala verstehen. Nonno Gaspares Wortschatz war für sie immer wie ein Berg funkelnder Juwelen gewesen, dessen Glanz sie – wie unzählige andere auch – auf eine schwer zu erklärende Weise reich gemacht hatte. Doch jetzt fühlte sie sich arm, beraubt durch die verletzenden Worte des Arztes. Falls nicht Herzensschmerz, sondern Einsamkeit die Ursache für des Erzählers Stummheit war, dann hatte sie, Gaspares beste Freundin, kläglich versagt. Ja, wenn nicht sie, wer dann konnte sein altes Herz noch retten?
    Pala wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Die Worte ihrer Mutter vom Mittag fielen ihr wieder ein: »Er hat doch ständig irgendwelche Kinder um sich herum…« Anscheinend war sie wirklich nur irgendein Mädchen für Gaspare, jemand, der seinen Geschichten lauschte, aber ihm sonst nichts bedeutete.
    Und trotzdem fühlte sie sich schuldig am Unglück dieses stummen alten Mannes.
    Auch wenn sie nicht genau wusste, was sie falsch gemacht hatte, wäre Pala nicht Pala gewesen, wenn sie ihrer Verzweiflung nun freien Lauf gelassen hätte. Sie wollte wieder gutmachen, was sie angerichtet hatte. Aber wie…?
    Ihr Blick wanderte zu dem im steinernen Türpfosten eingravierten Gedicht, als könne dieses ihr die Antwort auf ihre Fragen geben.
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