Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
unterbrach Pala den Redeschwall des Arztes, der sogar schon ihre Mutter auf die Welt gebracht hatte. »Es geht um Nonno Gaspare.«
    Hektik schien dem Arzt, der ungefähr im gleichen Alter wie Gaspare Oratore war, fremd zu sein. Hinter einer silbernen runden Brille betrachteten seine dunklen Augen das Mädchen, als wäre es selbst der gemeldete Notfall. Der Doktor massierte die große kahle Stelle zwischen dem grauen Kreis aus Haarbüscheln auf seinem Kopf und wagte nach angemessener Bedenkzeit eine erste Lagebeurteilung.
    »Ihm steckt ein Hühnerknochen im Hals.«
    »Es ist schlimmer, Dottore Stefano. Er hat die Sprache verloren. Bitte kommen Sie. Schnell!«
    »Die Sprache? Verloren?«, wiederholte der Arzt ungläubig. »Gaspare? Ein Geschichtenerzähler? Unmöglich!«
    »So ist es aber, Dottore. Nun kommen Sie doch endlich!«
    Dottore Stefano schüttelte den Kopf. »Dann ist es wirklich ernst. Warte, Pala, ich hole nur schnell meine Tasche.«
    Der Arzt ließ den Studienrat im Unterhemd zurück und eilte nur eine Minute später mit seiner bauchigen schwarzen Arzttasche durch ein Wartezimmer erstaunt dreinblickender Patienten. Pala kletterte derweil wie ein Eichhörnchen die Hauswand hinab und erwartete ihn auf der Straße. Der ehrenwerte Dottore stülpte sich einen knallroten Helm über, stieg auf seinen weißen Motorroller und vergewisserte sich des festen Halts seiner Notfallhelferin auf dem Sozius. Dann fegte er mit ihr die Gasse zur Piazza hinab.
    Bei den alten Männern in den Korbsesseln rückte Pala allmählich zum Hauptgesprächsthema des Tages auf. Zum dritten Mal überquerte sie jetzt schon den Platz der Dichter und jedes Mal in größerem Tempo. Ein Greis wagte die Vorhersage, sie werde in einigen Minuten auf einer Rakete vorüberschießen, und machte ein dementsprechendes Wettangebot.
    Der Geschichtenerzähler saß noch genauso auf seiner Bank, wie Pala ihn zurückgelassen hatte: sprachlos und mit rotem Gesicht.
    Dottore Stefano brachte den Motorroller rutschend neben der zerbrochenen Zigarrenkiste zum Stehen, klappte den Ständer heraus und näherte sich hierauf dem Alten mit einer Vorsicht, die Pala nicht verstehen konnte. Sie war gleich nach dem Stillstand des Zweirades vom Sozius gesprungen und zu ihrem Freund geeilt.
    »Wie geht es dir, Nonno?«
    Gaspare sah sie hilflos an und zuckte die Schultern. Möglicherweise ahnte er, was Pala von ihm wissen wollte, aber verstanden hatte er sie wohl nicht.
    Dottore Stefano legte sich zunächst einen weißen Mundschutz an, der Pala an einen Maulkorb erinnerte. Außerdem streifte er sich hauchdünne, weiß gepuderte Gummihandschuhe über. Das Verhalten des Arztes kam ihr immer merkwürdiger vor.
    Endlich begann der Doktor im Schatten des Lorbeerbaumes mit dem, was er als »Routineuntersuchung« bezeichnete. Er fühlte Gaspares Puls, lauschte dem Schlag seines Herzens, verschaffte sich tiefe Einblicke in dessen Rachen, Augen und Ohren. Der Geschichtenerzähler ließ alles geduldig über sich ergehen. Keine Spur mehr von seiner ersten panischen Aufgeregtheit, Verzweiflung schien ihn nun zu lähmen.
    Argwöhnisch verfolgte Pala jeden Handgriff des Arztes. Der Wind trug einzelne Blütenblätter vorüber und ließ Gaspares graues Haar erzittern. Ab und an flatterte auch ein Babyfoto durch Palas Gesichtsfeld.
    Im Hals von Nonno Gaspare war nichts zu entdecken, was dort nicht hingehörte. Sein Atem ging – ebenso wie der kräftige Herzschlag – regelmäßig, aber ein wenig zu schnell.
    »Nur die Aufregung«, erläuterte der Mediziner knapp. »Kein Grund zur Besorgnis. Deine Pumpe klingt wie die eines Dreißigjährigen. Du wirst mindestens hundert werden, mein Guter.«
    Wie Gaspares Gesten ganz klar erkennen ließen, war der beruhigende Ton in Dottore Stefanos Stimme zwar angekommen, aber der Sinn seiner Worte mit den Blütenblättern fortgeweht worden. Egal welche Fragen der Arzt auch stellte, der Geschichtenerzähler sah ihn nur, stumm wie ein Fisch, aus großen Augen an. Als Nächstes nahm der Doktor seinen Rezeptblock zur Hand, schrieb auf die Rückseite vier Worte und zeigte sie Gaspare.
    Wann ist es passiert?
    Der alte Mann starrte die Buchstaben nur verständnislos an. Palas Herz verkrampfte sich. Sie fing wieder an zu weinen.
    Dottore Stefano bewahrte Ruhe. Er reichte Gaspare den Bleistift, damit er eine Antwort niederschreiben konnte. Unbeholfen drehte der Alte den Stift in den Fingern.
    Aufmunternd nickte Pala ihm zu. Schreib es auf. formte sie mit den Lippen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher