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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Autoren: Ralf Isau
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wirtschaftliche Führung des Familienunternehmens vertraute der Familienrat Primo an, Palas Vater bewies hierin Umsicht, Menschlichkeit und großes Geschick. Sein Führungsstil war auf Verständigung ausgelegt, nicht auf rücksichtslose Alleingänge. Diese angenehme Wesensart ließ auch das Verhältnis zu seiner Tochter erblühen. Obwohl unsere Heldin nun oft ihren leiblichen Vater traf und manche Angelegenheit mit ihm besprach, trat er nie als Nebenbuhler um ihre Liebe auf. Während er auf diese Weise einer ihrer besten Freunde wurde, wuchs sie weiter in der Alexandrinergasse auf. Der unverhoffte Reichtum hatte daran nichts geändert. Oder sagen wir, nicht sehr viel.
    Mit großzügigen Spendengeldern sowie unter Verwendung echter Mauersteine wurde das Schloss wieder aufgebaut, um daraus ein Museum und eine Bildungs- und Forschungsstätte zu machen, die sich hinfort der Sprachpflege widmete. Gaspare Oratore wurde Ehrenpräsident der Stiftung, einige Jahre später übernahm eine gewisse Parola Oratore die Leitung, eine sprachgewaltige junge Frau, die, wie jeder wusste, mit einem Gebrauchsdichter namens Pasquale verlobt war.
    Albträume von Stürzen in bodenlose Tiefen gehörten für Pala zu dieser Zeit längst der Vergangenheit an. Ihrer Ansicht nach trug dazu vor allem die restlose Aufklärung ihres Lebensrätsels bei. Ihr Großvater hatte noch in der Nacht des freudigen Wiedersehens die ganze traurige Geschichte erzählt: Kurz bevor sein Erstgeborener endgültig in die Hauptstadt gezogen war, sei er noch einmal in die Märchengasse gekommen. Ein furchtbarer Streit brach aus. Da habe Primo ihm, Gaspare, die Wahrheit über das angeblich tot geborene Kind an den Kopf geschleudert. Die Trauer um seine Frau sei für ihn unerträglich gewesen, rechtfertigte sich Primo seinerzeit. Dem Wahnsinn nahe, sich unfähig fühlend, für ein Neugeborenes zu sorgen, habe er deshalb seine Tochter, sauber in Windeln und Decken verpackt, auf die Schwelle des Nonnenklosters von Silencia gelegt.
    Die Nachricht traf den alten Gaspare wie ein Keulenschlag. Damals verband ihn und die kleine Pala längst ein inniges Verhältnis. Natürlich interessierte er sich für alles, was ihre Kindheit betraf, und ihm war auch die auffällige Ähnlichkeit des Mädchens mit ihm und seinen Söhnen nicht entgangen (nur wenige in Silencia hatten dunkle Haare, aber himmelblaue Augen wie die Oratores). Jedes Mal, wenn er mit Palas Ziehvater über diese Fragen sprechen wollte, antwortete dieser nur ausweichend, wie jemand, der nicht lügen, aber auch nicht die Wahrheit sagen will. Allein der Wille zur Offenheit hätte ihm wenig genutzt. Wer war des Kindes leiblicher Vater, von dem, wie er zu Recht vermutete, das angekohlte Geburtsgedicht stammte? Niemand schien es zu wissen, auch die Ordensschwester nicht, die das Pergament mit knapper Not aus den Flammen gerettet hatte, nachdem das Kloster von einem Blitz getroffen worden war. Sie übergab es Palas Zieheltern zusammen mit dem Waisenkind und weil sie nur als Botin auftrat, entstand die Legende von dem unbekannten Dichter, dem das Kind seine Lebensverse verdankte. Später besuchte die Nonne das Mädchen einmal in der Woche, aber über die Herkunft des von ihr ausgezahlten Pflegegeldes konnte oder wollte sie nichts sagen. Deshalb vermochte Palas Adoptivvater auch niemals Gaspares Wissensdurst zu stillen. Sie könnte ein Findelkind sein, dachte sich daher der alte Graukopf, vielleicht sogar meine verschollene Enkeltochter. Ich werde sie nach Bildern fragen, nach Urkunden und anderen Dokumenten, die ihre Herkunft aufklären können.
    Wie wir inzwischen wissen, kam ihm die seltsame Verflüchtigung der Worte dazwischen und Palas Geschichte nahm jenen Verlauf, den wir nun alle kennen. Na ja, zum Glück ist alles gut ausgegangen. Oder sagen wir, besser als zu befürchten stand.
    Die Gassen und Plätze Silencias hallen nun wie in alten Zeiten vom Geplapper und Geplauder der Menschen wider, bei Tag und bei Nacht. Nur oben auf der wieder aufgebauten Burg herrscht Stille, wenn der Mond seine silberne Scheibe über den Schlossberg hievt. Fast jedenfalls. Das rätselhafte Brummen kann man bisweilen immer noch hören, wenn es die Flure durchschwirrt und die Türme umkreist. Die Leute munkeln, es stamme von einem geflügelten Wesen, groß wie ein wohlgenährter Kater, im Aussehen dagegen eher wie ein Insekt. Aber selbst wenn Polizisten Flügel hätten, könnten sie es wohl nicht sehen, weil Wortklauber viel zu scheue
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