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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Autoren: Ralf Isau
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hast gut daran getan, es zu vernichten, Schwesterchen. Die Sprache bedarf keines solchen Buches, um ihre Kraft zu entfalten. Jetzt können die Menschen endlich wieder frei über ihre Worte verfügen. Und nun komm!«
    Pala lief zu ihm zurück, nahm seine Hand und folgte ihm zur Tür. »Hoffentlich tun sie es diesmal mit mehr Bedacht. Ach übrigens, hast du nicht unlängst behauptet, deine Zuneigung zu mir hätte tiefe Wurzeln?«
    Giuseppe sah sie verdutzt an. »Worauf willst du hinaus?« Pala lächelte zuckersüß. »Da gibt es eine Neuigkeit, von der ich dir unbedingt erzählen muss, Onkelchen… «
    Die Flucht durch den Zitadellenturm glückte in letzter Sekunde. Gerade hatten Pala, Giuseppe und das Nuschel die unterirdischen Gänge betreten, als über ihnen das Feuer durchbrach. Die schwere, eisenbeschlagene Tür zerbarst mit lautem Knall und eine Sturzflut von Flammen ergoss sich ins Innere des Bergfrieds.
    Der Tunnel war direkt in den Fels geschlagen und an manchen Stellen zu niedrig, um darin aufrecht gehen zu können. Immer wieder zweigten Quergänge ab. Pala musste an Romeo denken, der nach seiner Ächtung in diese finstere Welt geflohen war. Giuseppe fand sich darin mit schlafwandlerischer Sicherheit zurecht. Als Orientierungshilfe diente ihm ein geheimnisvoller glänzender Zylinder, ähnlich einem Fernrohr, das anstelle von Linsen blau funkelnde Edelsteine besaß. Bei jeder Abzweigung blickte er da hindurch, nickte zufrieden und lief zielstrebig in den ihm vom Stollenlot angezeigten Gang. So nannte er das Sehrohr: Stollenlot. Woher es allerdings stammte, wollte er nicht sagen – es schien ihm unangenehm zu sein. Außerdem trug er in seiner Rechten eine Fackel.
    »Was ist mit den Wortklaubern geschehen?«, fragte Pala nach längerem Schweigen. Auf ihrer Schulter saß das Nuschel.
    »Sind alle verbrannt«, antwortete Giuseppe wortkarg.
    »Alle bis auf Tozzo.«
    Der Erzähler nickte. »Dem kleinen Kerl habe ich nicht nur Unrecht getan, sondern ihn außerdem noch unterschätzt. Ich überlege gerade, was aus ihm werden soll, jetzt, wo Zittos Reich sich in Luft auflöst. Vielleicht…«
    »Giuseppe!«, unterbrach ihn Pala. Ihre Augen strahlten.
    »Was ist?«
    »Sie sind wieder alle da!«
    »Wer? Die Wortklauber?«
    »Nein, aber die von ihnen geraubten Worte! Du kannst sie wieder aussprechen.«
    Giuseppe blieb stehen und drehte sich zu Pala um. »Ist mir noch gar nicht aufgefallen, aber du hast Recht.« Er grinste wie ein großer Junge. »Jetzt kann doch noch ein anständiger Geschichtenerzähler aus mir werden. Und ein würdiger Nachfolger des von allen geliebten Gaspare.«
    »Ja, meines Nonno! Er wird sich bestimmt freuen.«
    »Deines…? Ach so, ja, wir sind ja jetzt Nichte und Onkel – daran muss ich mich erst gewöhnen.«
    Kurze Zeit später erreichten sie das Ende des Geheimgangs. Sie kletterten durch eine Bodenluke in einen engen Raum von höchstens drei mal drei Schritten. Das Fackellicht waberte über die hölzernen Wände einer schäbigen Hütte. Fenster gab es hier nicht, nur eine Tür. Des Mädchens Herz begann mit einem Mal wie wild zu rasen. Von plötzlicher Beklemmung erfasst, stürzte es mit dem Nuschel ins Freie. Giuseppe folgte dichtauf. Sie befanden sich etwa auf mittlerer Höhe des Schlossberges. Als Pala sich zu dem Verschlag umwandte, blieb ihr Mund offen stehen.
    »Was ist?«, fragte Giuseppe. »Du tust ja gerade so, als ob der Schuppen eine Gespensterherberge wäre. Eigentlich müsstest du ihn kennen.«
    »Es ist das Haus des Schweigens.«
    »Wo steht das? Ich sehe nur ein Sonett.«
    Das stimmte. Name und Rätselspruch waren verschwunden, dafür hing ein Schild mit dem elften Gedicht aus Romeos Sonettenkranz über der Tür. Pala steckte sich eine Haarlocke in den Mundwinkel. »Anscheinend konnte Zitto das Häuschen nicht aus seinem Garten verbannen, weil es von einem seiner Vorfahren errichtet worden war oder weil dieses Gedicht nirgendwo sonst erhalten geblieben ist. Sag mal, Nuschel, weshalb hast du nicht den Geheimgang benutzt, um aus dem Haus des Schweigens zu entkommen? Erzähl mir jetzt nicht, du hättest dich nie danach gefragt.«
    »So is’ es ja auch nich’. Andere Eingeschloss’ne hatt’n mir zwar von ‘nem Weg ins Schloss erzählt, aber ich wusste weder, wo-sich die Falltür befindet, noch wie-ich-sie hätt öffn’n könn’n. Zitto hat doch alle Wege nach ob’n versteckt.«
    »Das leuchtet mir ein.« Pala wandte sich ihrem Onkel zu. »Und was hast du dann getan, wozu die
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