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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Autoren: Ralf Isau
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Böses werden lassen. Er ließ sich von seinem eigenen Ehrgeiz verzehren.« Pala schüttelte sich bei dem Gedanken an Zittos Ende.
    »Schau nur, die Mauer!«, entfuhr es Giuseppe unvermittelt. »Sie ist eingestürzt.«
    Die Klostermauer wies zahlreiche Breschen auf, als sei sie seit hunderten von Jahren nicht mehr instand gesetzt worden. Pala hatte es auch schon bemerkt, aber sie lächelte nur, anstatt wie Giuseppe zu staunen.
    »Was bemerkt man kaum, solange man es nicht beachtet, erscheint jedoch unüberwindlich, sobald man es zu erklimmen sucht?«
    »Mir steht jetzt wirklich nicht der Sinn nach weiteren Rätseln, Pala.«
    »Denk an das Haus des Schweigens.«
    Giuseppes Gesicht fing an zu strahlen. »Natürlich! Es ist die Mauer des Schweigens. Womit sonst hätte sich Zitto besser schützen sollen? Was ist undurchdringlicher und was kann höher sein als sie?«
    »Und hast du ihre Krone dann erklommen, erblickst du einen Abgrund ganz benommen.« Pala lachte. »Das war ein fünfhebiger Jambus! Ich sollte vielleicht mein eigenes Sonett schreiben.«
    Giuseppe stöhnte leise.
    »Du hast Recht, Onkelchen. Es gibt Wichtigeres. Zuerst muss ich jemanden umarmen. Ich kann es gar nicht erwarten.«
    Als Pala und Giuseppe den Platz der Dichter erreichten, herrschte dort Volksfeststimmung. Nach Erschallen des Meister-Sonetts und der hierauf folgenden seltsamen Wiederkehr der Worte hatte es niemanden mehr zu Hause im Papperlasessel gehalten, alle waren unter den Uhrenturm geeilt: Jungen und Mädchen, Männer und Frauen, Greise und Greisinnen. Die Menschen lagen sich in den Armen wie Freunde, die sich nach langer Zeit wieder gefunden hatten. In dem Durcheinander war es so gut wie unmöglich, jemand Bestimmtes zu finden. Aber schließlich gelang es Pala doch.
    »Mama!«, rief sie, nachdem zuerst Nina sie entdeckt und vor Aufregung gekreischt hatte.
    Die Mutter starrte das zerschundene, verschmutzte, nur noch in Lumpen gekleidete Mädchen wie ein Gespenst an. Auch der Vater tauchte aus der Menge auf und sein Lachen gefror.
    Pala hatte sich sofort von Giuseppes Hand losgerissen, doch nun zögerte sie. Ihre Knie wurden weich. Was war los mit den beiden? Freuten sie sich denn nicht? War am Ende alles vergeblich gewesen? Hatten sie das Familienband für immer zerschnitten…?
    Mit einem Mal begann ein Ausdruck des Glücks und unbeschreiblicher Erleichterung die Gesichter der Eltern zu erhellen wie der erste Sonnenstrahl einen neuen Morgen. »Pala!«, rief die Mutter, klemmte sich Nina unter den Arm und stürmte auf ihre Große los, dicht gefolgt von dem Vater. Inmitten der jubelnden Menschen fielen sie sich in die Arme. Irgendwo klatschten ein paar Leute Beifall.
    »Es tut mir ja so Leid!«, wimmerte die Mutter. »Vergib mir, Pala. Meine bösen Worte – sie waren nicht ernst gemeint.«
    »Wir lieben dich doch«, beteuerte der Vater.
    »Aber das weiß ich ja«, schluchzte Pala. »Sonst wäre ich niemals nach Hause gekommen. Stellt euch vor, fast hätte ich in einem Hungerkäfig schmoren müssen, als mir klar wurde, warum ihr damals auf das Pflegegeld verzichtet und mich stattdessen adoptiert habt: aus Liebe!«
    »Wir wollten das Geld zurückzahlen«, beteuerte die Mutter. »Papa und ich haben dafür jahrelang gespart. Leider kennen wir bis heute nicht den Namen des Unbekannten, der uns die Zahlungen wöchentlich über das Kloster hatte zukommen lassen. So bewahrten wir die Empfangsbestätigungen bis heute in einem Pappkarton auf…«
    »Und ich hätte sie beinahe entdeckt«, murmelte Pala. »Jetzt ist mir klar, warum ich nie in Omas Stube herumschnüffeln durfte.«
    »Pala bleibt jetzt da!«, krähte Nina.
    Eine ganze Weile standen sie so beisammen, sich umarmend, sich küssend, sich gegenseitig mit Tränen benetzend, und merkten gar nicht, wie sich um sie herum ein großer Kreis aus Menschen bildete. Alle wollten ihre Heldin weinen sehen.
    »Wir vier bleiben zusammen, mein Kind«, versicherte die Mutter, wohl schon zum hundertsten Mal, als sich unvermittelt eine neue Stimme Gehör verschaffte.
    »Habt ihr noch Verwendung für einen Großvater?«
    Die verwirrende Umklammerung lockerte sich etwas und Pala blickte über die Schulter der Mutter hinweg in das Faltengesicht eines alten Mannes. »Nonno!«, schrie sie unvermittelt aus voller Kehle – ihre Mutter musste sich das Ohr zuhalten.
    Rasend schnell fädelte Pala sich aus dem Umarmungsknäuel heraus und fiel nun dem alten Geschichtenerzähler in die Arme. Neue Tränen begannen zu
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