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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Autoren: Ralf Isau
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rechts vom Kampanile, dem großen, frei stehenden Uhrenturm des Rathauses, saßen wie immer die alten Männer der Stadt in ihren ausladenden Korbsesseln und palaverten. Pala konnte sich nicht erinnern, die Piazza jemals ohne die munteren Grauköpfe gesehen zu haben. Sie schienen mit ihren Sesseln dort ebenso verwurzelt zu sein wie die Pinien, deren schirmförmige Baumkronen sie vor der glühenden Sonne schützten.
    Hinter dem Platz nahm sie die enge Gasse, in der das Zeitungshaus des Silencia-Boten stand. Manchmal blieb sie hier stehen, um die in einem Schaukasten hinter einer Glasscheibe aufgehängten Zeitungsseiten zu lesen. Wortreich – und arm an Bildern – wurde dort geschildert, was die kleine Welt Silencias und die große ferner Städte und Länder an Neuigkeiten zu bieten hatten. Doch an diesem Nachmittag schenkte Pala der örtlichen Presse keine Beachtung. Sie hatte es eilig.
    Während es stetig bergauf ging, murmelte sie Reime. Die kleinen Gedichte standen teilweise schon seit Jahrhunderten an den Hauswänden der Stadt. Mit ihrem erstaunlichen
    Gedächtnis für solche Sinnsprüche kannte Pala auf ihren häufig benutzten Wegen fast alle Wandgedichte auswendig. Sie musste nur ein Haus aus der Ferne sehen und schon wusste sie den passenden Spruch dazu – umgekehrt klappte das natürlich genauso.
    Die schmale Gasse endete vor einem verfallenen Kloster, das vor Jahren ein Blitzschlag heimgesucht hatte. Es war seinerzeit völlig ausgebrannt und das Dach eingestürzt. Mit der ihnen ureigenen Phantasie hatten sich die Bürger Silencias die verschiedensten Gründe für das Unglück ausgedacht: ein Fluch Gottes, ein Anschlag des Teufels, das Werk eines übel wollenden Zauberers. Die Nonnen waren jedenfalls längst in eine andere Einsiedelei umgezogen und auch für die Priester gab es in der Stadt noch genügend Gotteshäuser.
    Pala besaß keine eigenen Erinnerungen an den großen Klosterbrand vor über zehn Jahren und konnte daher die finsteren Geschichten, die sich um die Ruine rankten, weder erhärten noch entkräften. Das Gemäuer erfüllte sie mit einer Mischung aus Furcht und Neugier. Meist überwog die Angst und daher war sie froh, endlich in die Märchengasse einzubiegen, an deren Ende Gaspares kleines Steinhaus lag.
    Ihre Füße wollten mit einem Mal nicht mehr an sich halten und so begann sie zu laufen. Die Sohlen ihrer weißen Sandalen klatschten laut auf dem Kopfsteinpflaster. Wieder ging es steil bergan, direkt an der Mauer des Burggartens entlang. Hier, etwas abseits von der große Piazza, standen die Häuser weiter auseinander. Zwischen einigen wucherte Unkraut, anderswo gediehen Kräuter und Gemüse. Die Gasse mündete in einen kleinen runden Platz, der fast zur Hälfte von einem knorrigen alten Baum überragt wurde, dessen Wurzeln ringsherum das Pflaster aufwarfen. Die anderen Häuser hielten von Gaspares Heim Abstand wie von einem schrulligen Einzelgänger, was Pala jedoch nie als störend empfunden hatte, eher im Gegenteil – auf dem Platz konnte man an windstillen, lauen Sommerabenden sogar gefahrlos ein Lagerfeuer anzünden. Die Märchengasse war eine Oase des Friedens in der sonst so quicklebendigen Stadt.
    Meistens wurde Palas Kommen schon frühzeitig bemerkt und Gaspare kam ihr, gestützt auf seinen Gehstock, entgegen. So auch an diesem Tag. Aber etwas stimmte nicht. Schon von weitem fiel es ihr auf, wenngleich es zunächst nur eine dunkle Ahnung war. Jetzt flog sie dem alten Geschichtenerzähler förmlich entgegen.
    Endlich hatte sie ihn erreicht. Atemlos blieb sie vor Nonno Gaspare stehen und sah erschrocken in sein schmales unrasiertes Gesicht. Es glühte sonnenbrandrot. Pala kannte das wettergegerbte Antlitz ihres alten Freundes nur in der Farbe Braun, einem alten Lederschuh sehr ähnlich. Weil Nonno Gaspare noch immer nichts gesagt hatte, trat sie noch einen Schritt näher. Jetzt, bei näherem Hinsehen, entdeckte sie auf der roten Faltenlandschaft unzählige kleine Pünktchen, als sei ein blutrünstiger Schwarm von Stechmücken über ihn hergefallen. Aber es sollte noch schlimmer kommen.
    Gaspare brachte kein einziges Wort hervor.
    Stattdessen begann er plötzlich mit den Armen herumzufuchteln, wobei er den Krückstock wie eine Streitkeule durch die Luft sausen ließ, als wolle er seine Besucherin unbedingt erschlagen.
    Benommen wich Pala den nicht sehr genauen Hieben aus. Dabei rutschte ihr die Holzkiste mit den Kinderfotos aus der Hand und zerbrach auf dem Kopfsteinpflaster. Sie
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