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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Autoren: Ralf Isau
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Neues.«
    »Er möchte sich gerne meine Babyfotos ansehen.«
    Jetzt lachte die Mutter sogar. »Er hat doch ständig irgendwelche Kinder um sich herum, wozu da noch die Bilder?«
    »Bitte, Mamaaa!«
    »Na, meinetwegen. Aber bring die Fotos wieder mit, hörst du? Was verloren geht, bleibt verloren.«
    »Klar, mach ich.« Pala wirbelte herum, froh einer strengeren Ermahnung entkommen zu sein, und rannte in ihr Zimmer. Der Ranzen flog in hohem Bogen durch die Luft und landete zielgenau auf dem Bett. Dann versank sie in den Bildern ihrer frühesten Kindheit.
    Jedes Mal, wenn Pala diese alten Schwarzweißfotografien betrachtete, vergaß sie alles um sich herum. So auch jetzt. Dabei zeigten die Aufnahmen nur die üblichen Kleinkindposen: Pala auf dem Nachttopf, Pala bäuchlings auf einem Lammfell, Palas Gesicht zusammengedrückt zwischen den beiden Kussmündern der Eltern…
    Manchmal glaubte sie, auf den kleinen, viereckigen Erinnerungskartons etwas suchen zu müssen, aber sie wusste nicht, was. Ein Motiv hielt Palas Aufmerksamkeit besonders gefangen: Ihre Mutter hielt den neugeborenen Winzling im Arm und ihr Vater stand mit einem Bilderrahmen daneben, in dem sich ein schwungvoll beschriebenes Blatt befand.
    Palas Blick wanderte zur Wand neben der Tür, wo ebendieser Rahmen hing. Gut geschützt hinter einer Glasscheibe befanden sich da jene Verse, die ihr angeblich von einem unbekannten Dichter zur Geburt geschenkt worden waren. Nicht einmal ihre Eltern konnten sagen, aus wessen Feder die vier Strophen wirklich stammten, und das war mehr als ungewöhnlich. Einem alten Brauch zufolge musste der Vater das Geburtsgedicht für sein Kind verfassen. Nur wenn dies nicht möglich war, sprang ein enger Verwandter ein oder man beauftragte einen Gebrauchsdichter. Letzteres konnten sich nur reiche Leute leisten, zu denen Palas Eltern nie gehört hatten. Doch auch ohne ein Poet zu sein, hätte ihr Vater mit einiger Mühe drei, vier schlichte Reime zu Papier bringen können. Warum hatte er es dann nicht getan?
    Diese Widersprüche machten Pala kribbelig, und das schon seit Jahren. In ihrer Seele schien ein Loch zu klaffen, eine unerklärliche Leere, die sie trotz angestrengtestem Nachdenken nicht ausfüllen konnte. Die Erklärungsversuche ihrer Eltern stellten sie nicht wirklich zufrieden. Der Unbekannte sei ein Menschenfreund gewesen, sagten sie, der ihnen eine Freude habe machen wollen, indem er ihnen ein gebrauchtes Gedicht kostenfrei überließ. Mit dem Pergament hätte er ohnehin keinen Reibach machen können. Es war vergilbt, mehrfach eingerissen und am linken Rand sogar angesengt, als hätte es jemand im letzten Augenblick einem Feuer entrissen. Der fremde Gönner jedenfalls dürfte kaum der Verfasser gewesen sein. Dafür sah die braune Tinte schon zu verblichen aus, gerade so, als wäre sie schon jahrhundertealt, und auch die durch sie geformten Worte klangen wie aus einer unendlich fernen Zeit. Ein Prickeln überlief Palas Nacken. Als leidenschaftliche Rätsellöserin besaß sie ein Gespür für Geheimnisse und dieses Sonett schien gleich mehrere davon zu bergen. Aber welche? Konnte die darin versteckte Botschaft womöglich enthüllen, was die alten Kinderfotos nicht zeigen wollten?
    Langsam wanderten Palas Augen über die vergilbten Buchstaben an der Wand. Elf Silben je Zeile, zwei Strophen zu je vier und zwei mit jeweils drei Zeilen – der strenge Bauplan des klassischen Sonetts, wie sie von Pasquales Vater wusste. Auch dieses da im Rahmen hielt sich an die ehernen Regeln alter Klinggedichte. Wenn es um so gewöhnliche Dinge wie Ablageorte für Schulranzen ging, verhielt sich Palas Gedächtnis oft wie ein Sieb, aber zum Einprägen derartiger Reime genügte meist schon ein längerer Blick. Ausgerechnet dieses Sonett, das sie hätte im Schlaf hersagen können, nahm sie jedoch immer wieder aufs Neue gefangen. So auch jetzt.
     
    Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer,
    die Maske heit’ren Überschwangs mag trügen.
    Selbst Friedensboten neigen gern zum Lügen,
    doch echte Weisheit ist ein Schatz von Dauer.
    Wenn Ungewohntes macht ihr Lächeln sauer,
    selbst Hochbetagte muss man manchmal rügen,
    bevor selbst Freunde sich dem Schweigen fügen,
    weil Altersstarrsinn fällt wie Hagelschauer.
    Wenn redliches Gespräch versiegt im Sande,
    öffnet das Tor sich unheilvollen Reitern,
    die bringen Hunger, Krieg und Pest dem Lande.
    Versäumt ein Rat zur Zeit sich zu erweitern,
    folgt seinem Schweigen fürchterliche
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