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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Autoren: Ralf Isau
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Schande
    allein die Furcht lässt manche Absicht scheitern.
     
    »Pala, komm bitte, das Essen wird kalt!« Mutters Stimme klang ungeduldig, so, als hätte sie ihre Ermahnung schon mindestens zweimal wiederholt. Die ersten beiden Aufforderungen musste Pala überhört haben. Sie riss sich vom Anblick des Sonetts los und rannte in die Küche.
     
     
    Einmal in der Woche kochte Mutter Hühnernudelsuppe, ein kleiner Trick, damit Pala das Essen nicht so hinunterschlang. Die Nudeln bestanden nämlich aus Buchstaben und meistens ließ sich »Mutters Große« dazu hinreißen, einzelne von ihnen auf dem Tellerrand aneinander zu reihen, um auf diese Weise Worte zu bilden. Wenn Pala gefragt wurde, wo sie Lesen gelernt habe, dann antwortete sie gewöhnlich: »In der Nudelsuppe.«
    Mit »Mama«, »Papa«, »Hund« und »Katze«, in Nudelteig auf den Tellerrand gebannt, hatte es begonnen. Für jedes richtig buchstabierte Wort war sie mit den bewundernden Ausrufen ihrer entzückten Eltern überschüttet worden. Zu ihrer Freude musste sie, wie übrigens immer noch, die kleinen Kunstwerke nicht einmal verspeisen. Bald wurden die essbaren Begriffe komplizierter und länger. Das kleine Mädchen entwickelte einen für sein Alter erstaunlichen Ehrgeiz zu immer gewaltigeren Sprachgebilden. Eines Tages hatte Palas neuestes Wort ganz um den Teller herumgereicht. Es lautete »Dampfschifffahrtsgesellschaftskapitänskajütenklubsesselbe-zugsgarnspinnmaschinenmechanikergrundausbildungs-abschlusszeugnis«. Oder so ähnlich.
    Inzwischen hatte sich Pala auf eigene Wortkreationen spezialisiert. Manche waren noch aus bekannten Ausdrücken zusammengesetzt wie etwa »Dosenlacher« oder »halb-gelbbäuchiger Zwiebelsaftsauger«, andere bildeten völlig eigenständige Wortschöpfungen, deren Bedeutung leider verloren gegangen ist. Dazu gehört auch die »Abalambrawuche«.
    Mit ihrer List schaffte Mutter es fast immer, ihre Große zum Aufessen zu bewegen. »Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer«, pflegte sie zu sagen. Die Hühnersuppe schien ihr Recht zu geben.
    An diesem Frühlingstag war das Tischgespräch im Familienkreis eher einsilbig. Mutter achtete gar nicht auf Palas verzweifelte Versuche ein neues Wort zu erfinden. Vater schlürfte still vor sich hin. Er wirkte nachdenklich und achtete kaum auf die Nudel – es war ein Z –, die sich in seinem buschigen Schnurrbart verhakt hatte. Nina blubberte Brüheblasen auf ihr Lätzchen.
    Das Schweigen drückte auf Palas Gestaltungskraft. Wo sie das heitere Tischgespräch sonst zu überraschenden Wortschöpfungen anregte, brachte sie nun gerade drei Silben zustande: »Wortfresser«. Eine buchstäblich magere Ausbeute.
    Hiernach brütete sie still vor sich hin. Sie musste an das erschrockene Gesicht ihrer Mutter denken, als sie den Karton mit den alten Papieren in der Rumpelkammer erwähnt hatte. Sieht so jemand aus, der sich nur um die Ordnung vergilbter Unterlagen sorgt? Palas Neugierde war jedenfalls geweckt. Vielleicht barg die große Pappschachtel ja ein Geheimnis. Im Augenblick war an einen zweiten Streifzug ins verbotene Reich nicht zu denken, aber in der kommenden Nacht, wenn alle schliefen, würde sich schon eine Gelegenheit finden. Doch zuvor wollte sie Nonno Gaspare die Bilder zeigen.
    Als Vater endlich die Tischrunde aufhob, fühlte sich Pala von einer lähmenden Fessel befreit. Sie verteilte flüchtige Küsse auf die Wangen ihrer Familie und stürzte mit den Kinderfotos wie von sieben wilden Wölfen gejagt aus dem Haus. Auf ihrem zurückgelassenen Teller rutschten elf Buchstaben langsam den Rand hinunter. Als Mutter ihn kurz darauf abräumte, hatte sich der Wortfresser längst davongestohlen.
    Obwohl Silencia mit einer Universität, zwei Schwimmbädern, drei Zeitungen, etlichen Buchverlagen und einer ganzen Reihe anderer untrüglicher Merkmale echten Städtetums gesegnet war, hatte es sich doch das Wesen eines Dorfes bewahrt. Dazu gehörten auch die überschaubaren Ausmaße der Gemeinde – mit einem gemütlichen kleinen Spaziergang konnte man alles und jeden erreichen.
    Der Weg von der Alexandrinergasse zu Nonno Gaspare war daher für Pala spielend zu bewältigen. Zuerst lief sie, die Zigarrenkiste mit den Kinderfotos fest unter den Arm geklemmt, ein paar schmale Sträßchen steil hinunter, vorbei am Park des Krankenhauses und anschließend über die Piazza dei Poeti, dem ausgedehnten rechteckigen Platz der Dichter. Die Marktstände waren längst abgebaut. Aber in der Ecke
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