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Ostsee-Storys

Ostsee-Storys

Titel: Ostsee-Storys
Autoren: Michael Augustin
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Altarleuchter in den Armen und einen Stapel Gesangbücher, als da nichts mehr zu machen war für die herbeigeeilten Gemeindehelfer und alle heulend und abgekämpft mit ansehen mussten, wie sich im Allerheiligsten die Hölle breitmachte und aus den bunten Fenstern das Blei auf den im Schein der Flammen besonders roten Backstein tropfte.
    Franziskas Oma dürfte damit wohl auch die Letzte gewesen sein, die den weltberühmten Lübecker Totentanz gesehen hat, falls sie dafür überhaupt noch Augen hatte, bevor er mitsamt der Totentanzorgel, an der sogar der junge Bach noch musiziert hatte, vom Feuer gefressen wurde. Vom Lübecker Totentanz , einem monumentalen Gemälde des Meisters Bernt Notke, haben mir als Kind viele erzählt, auch mein Opa, der allerdings keine Gesangbücher und auch keinen Leuchter aus der Marienkirche gerettet hat, weil er stattdessen mit einer Feuerpatsche und einem Löschsandeimer in der Ludwigstraße Wache schieben musste. Aber er hat ihn noch mit eigenen Augen gesehen, den Totentanz vor jener Nacht auf Palmarum 1942, als ein Drittel seiner (und meiner späteren) Heimatstadt weggebombt wurde. Papst, Kaiser, König, Edelmann und -frau, Kaufmann, Soldat und unschuldiges Kindlein: sie alle waren nicht gefeit vor dem finalen Tanz mit Freund Hein, Jan Klapperbeen, dem knochigen Sensenmann.
    Bernt Notke und seine Malerkollegen, die damals vor fünfhundert Jahren beruflich viel rumkamen im gesamten Ostseeraum, hatten die Pest vor Augen, und natürlich waren ihnen auch Kriege alles andere als unbekannt. Vom Lübecker Totentanz sind nur Fotos geblieben aus einer Zeit, als alles noch schwarz-weiß war, weiß wie das Laken, schwarz wie der Tod. Mit diesen Fotos, die es auch als Postkarten gab, bin ich aufgewachsen und kann es daher gar nicht fassen, als ich unlängst nach einer Lesung im Haus des Schriftstellerverbandes gleich gegenüber in der Nikolaikirche der estnischen Hauptstadt Tallinn vor dem Totentanz Bernt Notkes stehe. Dem Totentanz in voller Farbigkeit und Größe! Einer Kopie des Lübecker Totentanzes , die noch zu Lebzeiten Meister Notkes an Bord eines Schiffes von Lübeck hierher ins Baltikum, in die damalige Hansestadt Reval transportiert worden ist, damit die Lübecker Kaufleute ein Stück Heimat aufsuchen konnten, wenn ihnen in der Ferne der Sinn danach stand. Eine Kopie, die heute – fünfhundert Jahre, manche Pest und ungezählte Kriege später – das Original geworden ist.



Der Blödmann aus Hamburg
    Gleich beim Einschiffen fällt mir dieser Blödmann im blauen Blazer mit den goldenen Knöpfen auf, der – etwas älter als ich, vielleicht sogar schon sechzehn – offenbar mit seiner Mutter unterwegs ist, die er auf schier unerträgliche Weise mit Mamá anredet; und zwar grundsätzlich so, dass alle anderen jedes Wort hören können: Das soll ein Meer sein? Dieser Tümpel? Nicht eine einzige Welle zu sehen! Da is doch auf der Binnenalster dreimal mehr los als auf dieser Ostsee, nich, Mamá? Doch die lächelt nur vielsagend. Vielleicht, weil ihr feiner Sohnemann ihr auch irgendwie peinlich ist. Leute aus Hamburg, die hier zu uns an die Küste kommen und die Züge verstopfen, so dass man nie einen Sitzplatz kriegt von Lübeck Hauptbahnhof bis Travemünde, und dann noch blöd rumstänkern, kann ich besonders gut ab! Allerdings muss ich ihm ja insgeheim zustimmen: Die Ostsee liegt da wie ein Brett. Auch als wir schon außerhalb der Dreimeilenzone sind auf unserem Weg nach Kopenhagen, regt sich kein Lüftchen, und alle haben sich an Deck der Nordland versammelt, um einen ziemlich grandiosen Sonnenuntergang zu erleben und fotografisch einzutüten. An der Elbe is der aber eintlich noch schöner, nich, Mamá?
    Später am Abend, es werden gerade die letzten Reste vom Buffet abgeräumt, geht ein merkwürdiges Zittern durch das Schiff, das die Teller zum Klappern und die Gläser zum Singen bringt. Die Nordland beginnt zu stampfen. Man merkt doch sehr deutlich, wie der schwere Rumpf in die Höhe gehoben wird, um gleich darauf mit Karracho wieder abzustürzen. Auch seitlich gerät das Schiff gehörig ins Schlingern, am Nebentisch kippt eine Flasche Rotwein um, und die ersten Leute streben an Deck, da sie plötzlich frische Luft brauchen, kommen aber gleich wieder, weil sie die Tür nicht aufkriegen vor lauter Sturm und Hagel draußen. Die Bordkapelle hat längst aufgehört und packt ihre Siebensachen. Als dann auch noch ein Teil der Festbeleuchtung erlischt, beginnt die Stimmung langsam zu kippen.
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