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Ostsee-Storys

Ostsee-Storys

Titel: Ostsee-Storys
Autoren: Michael Augustin
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Alfred Kerrs Büchlein zurück ins Regal gestellt habe, schnappe es mir, wende mich an den Antiquar und – nun ja – kaufe das Buch. Dass Sie bei diesem Dreck hier überhaupt atmen können, wundert mich sehr, sage ich, als ich bezahlt habe, und deute auf das Nazi-Regal, ich würde dran ersticken! Doch der Antiquar grinst nur, während seine Frau sich hinter einem kakofonischen Hustenanfall versteckt und ich mit Alfred Kerr in der Jackentasche den Laden verlasse, hinaus in die frische salzene Luft, die von der Förde herüberweht.



Wie die Ostsee macht
    Als ich vor etlichen Jahren in den USA den dort im Exil lebenden polnischen Dichter Czesław Miłosz und den estnischen Lyriker Ivar Ivask kennenlerne, der übrigens in Riga geboren wurde, kommen wir drei, einige Tausend Kilometer von unseren Heimatländern entfernt, zu der Erkenntnis, dass es nicht etwa die Nachbarschaft Deutschlands zu Polen und zu den Ländern des Baltikums oder etwa unser Europäertum ist, was uns hier, in Iowa City, mitten im Zentrum des nordamerikanischen Kontinents miteinander verbindet, sondern die Ostsee, mare nostrum für uns drei, ungeachtet aller sich zum offenen Meer hin eh auflösender Dreimeilenzonen. Auch mein Freund Bolesław Fac aus Gda ń sk, Dichter und Übersetzer, der bis zu seinem Tod in derselben Danziger Straße leben sollte, wie Günter Grass und dessen Familie es bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges getan haben, wobei freilich der ehemalige Labesweg längst Lelewela heißt, hätte dem gewiss zugestimmt.
    Mit Bolesław Fac spaziere ich eines Tages am Strand entlang, bei Danzig, dort, wo Günter Grass die handelnden Personen der Novelle Katz und Maus zum Wrack des abgesoffenen Minensuchboots hinausschwimmen lässt. Der Kalte Krieg, das ist trotz des kühlen Seewindes durchaus zu spüren, steht kurz vor seinem Ende, die Polen haben sich schon weitgehend befreit, jedenfalls im Vergleich zu ihren Nachbarn in der DDR oder der UdSSR, und wir unterhalten uns über das, was er in den letzten Jahren auf der Leninwerft erlebt hat, über seine eigenen Gedichte und über seine Übersetzungen der Gedichte seines Freundes Günter Grass, für die wir uns beide witzigerweise mehr begeistern können als für manches Prosawerk des damals noch in Berlin lebenden späteren Nobelpreisträgers. Besonders hat es uns das Gedicht Kleckerburg angetan (ein Meisterwerk, sind wir uns einig!), ein mitreißendes bilderreiches long poem über die Stadt Danzig und ihre Bewohner, autobiografisch durchwoben und einfach nicht wieder aus dem Kopf zu bekommen, vor allem, wenn man einmal mit eigenen Ohren gehört hat, wie Grass es selber vorliest in seinem saftigen kaschubisch-westpreußischen Sprachtimbre und dabei die Wörter tanzen lässt zu seiner Zungenschlagmusik. Wie hast du denn die Stellen übersetzt, an denen Grass die Ostsee sprechen lässt, möchte ich von ihm wissen, weißt du, zum Beispiel ganz am Ende des Gedichts …? – Ja, ja, lacht Bolesław, ist schon klar, wovon du redest. Zum Schluss gibt da nämlich die Ostsee sozusagen ihren Kommentar ab, in großer Gelassenheit, am Ende einer sprachlich-historischen tour de force durch die deutsch-polnisch-kaschubisch-jüdischen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Original macht die Ostsee bei Grass blubb, pifff, pschsch, sage ich, und Bolesław grinst: Das war ja nun wirklich das Einfachste an dem ganzen Gedicht. Willst du hören, wie sie macht, die Ostsee, in meiner Übersetzung? – Na klar!, rufe ich. Dann hör zu!, sagt Bolesław und bläst die Backen auf: Blubb, pifff, pschsch! – Aha, sage ich, wie im Original! – Na, wie denn sonst, sagt er. Schließlich ist es doch die Ostsee, die da spricht. Und der ist es völlig schnuppe, in welcher Sprache der Rest des Gedichts verfasst wurde … Estnisch, Litauisch, Schwedisch, Polnisch, Deutsch … ganz egal!
    Ich will ihm gerade zustimmen, doch er legt den Zeigefinger an die Lippen und deutet mit der anderen Hand auf die sanft zu unseren Füßen heranrollenden Wellen. Und so stehen wir beide da, bewegungslos, und hören es uns an, wie sie macht, die Ostsee …



Das Meer
    Das Meer, das Meer
    das voller Wasser ist
    und voller Fische.
    Auf dessen Oberfläche
    Schiffe fahrn
    und über dem in hoher Luft
    die Möwen ihre Kreise ziehn.
    Das Meer, das Meer:
    du trittst hinein in trockner Hose
    und trittst (wenn überhaupt)
    heraus in einer nassen.
    Das Meer, das Meer
    das voller Wasser ist.
    Am Ort des Geschehens vom Autor gelesen:
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