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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake
Autoren: Margaret Atwood
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brachte es fertig, Kopfsalat geräuschlos zu kauen. Auch die rohen Karotten. Das war erstaunlich – als könnte sie diese harten, knackigen Nahrungsmittel verflüssigen und in sich einsaugen, wie ein Mücken-Alien auf DVD.
    »Vielleicht, ich weiß nicht, braucht sie Hilfe?« Ramonas Augenbrauen hoben sich besorgt. Sie hatte malvenfarbenen Puder auf den Lidern, ein bisschen zu viel; die Haut wurde knitterig davon. »Man kann doch alles Mögliche tun, es gibt so viele neue Pillen…« Ramona galt als Technikgenie, aber sie redete wie eine Duschgel-Schönheit aus der Werbung. Sie ist nicht dumm, sagte Jimmys Vater, sie will nur nicht ihre Neuronenenergie in lange Sätze stecken. Leute wie sie gab es viele bei Organlnc, und nicht alle waren Frauen. Sie waren eben Zahlenmenschen, keine Wortmenschen, sagte sein Vater. Jimmy selbst war kein Zahlenmensch, so viel war ihm schon klar.

    »Glaub nicht, dass ich ihr das nicht schon längst vorgeschlagen hätte.
    Ich hab mich erkundigt, einen Spitzenmann gefunden, einen Termin vereinbart, aber sie will nicht«, sagte Jimmys Vater, den Blick auf den Tisch gesenkt. »Sie hat ihren eigenen Kopf.«
    »Es ist so schade, so eine Verschwendung! Ich meine, sie war so intelligent!«
    »Oh, sie ist immer noch ziemlich intelligent«, sagte Jimmys Vater.
    »Die Intelligenz kommt ihr aus den Ohren heraus.«
    »Aber sie war damals so, du weißt schon…«
    Ramona glitt die Gabel aus den Fingern, und die beiden starrten einander an, als suchten sie nach dem perfekten Adjektiv, um zu beschreiben, wie Jimmys Mutter früher gewesen war. Dann merkten sie, dass Jimmy zuhörte, und lenkten ihre Aufmerksamkeit auf ihn wie außerirdische Strahlen. Viel zu hell.
    »Na, Jimmy, mein Schatz, wie geht’s in der Schule?«
    »Iss auf, alter Kumpel, iss auch den Teig, davon wachsen dir Haare auf der Brust!«
    »Kann ich die Organschweine angucken?«, sagte Jimmy dann.

    Die Organschweine waren viel größer und dicker als normale Schweine, denn die zusätzlichen Organe brauchten Platz. Sie waren in eigenen Gebäuden untergebracht, mit massiven Sicherheitsvorrichtungen: Die Entführung eines Organschweins und seines ausgefeilten Genmaterials durch ein Konkurrenzunternehmen wäre eine Katastrophe gewesen.
    Wenn Jimmy die Organschweine besuchen wollte, musste er eine Gesichtsmaske und einen Bioanzug tragen, der viel zu groß für ihn war, und seine Hände mit Desinfektionsseife waschen. Am liebsten hatte er die kleinen Schweine, zwölf Stück pro Sau und in einer Linie nebeneinander, Milch trinkend. Organferkel. Sie waren süß. Aber die erwachsenen Tiere waren ein bisschen unheimlich mit ihren triefenden Rüsseln und ihren winzigen weiß bewimperten, rosaroten Augen. Sie blickten zu ihm herauf, als sähen sie ihn, als könnten sie ihn wirklich sehen und hätten später noch einiges mit ihm vor.
    »Schweinchen, Beinchen, Schweinchen, Beinchen«, sang er ihnen vor, um sie zu besänftigen, während er über der Oberkante der Box hing.
    Wenn die Boxen kurz zuvor gereinigt worden waren, rochen sie nicht so schlimm. Er war froh, dass er nicht in so einer Box lebte, wo er in Pisse und Kacke herumliegen müsste. Die Organschweine hatten keine Toiletten und machten überall hin, was in ihm ein dumpfes Schamgefühl hervorrief. Dabei hatte er selbst schon lange nicht mehr ins Bett gemacht; das glaubte er jedenfalls.
    »Fall nicht rein«, sagte sein Vater. »Die fressen dich in einer Minute auf.«
    »Das tun sie nicht«, sagte Jimmy. Weil ich ihr Freund bin, dachte er.
    Weil ich ihnen vorsinge. Er wünschte sich einen langen Stock, mit dem er sie pieken konnte – nur um sie ein bisschen herumzuscheuchen, nicht um ihnen wehzutun. Viel zu viele Stunden am Tag taten sie gar nichts.

    Als Jimmy noch wirklich klein war, hatten sie in einem der Module in einem Holzhaus im Cape-Cod-Stil gewohnt – es gab Bilder von ihm in einer Tragetasche auf der Veranda, mit Daten und allem, in ein Fotoalbum eingeklebt zu einer Zeit, als seine Mutter sich noch diese Mühe gemacht hatte –, jetzt aber wohnten sie in einem großen georgianischen Herrenhaus mit eigenem Swimming-Pool und kleinem Fitnessraum. Die Einrichtung hieß Reproduktion. Jimmy war schon ziemlich groß, als er endlich begriff, was das bedeutete: dass es für jeden reproduzierten Gegenstand irgendwo ein Original gab. Oder gegeben hatte. Oder so ähnlich.
    Das Haus, der Pool, die Möbel – alles gehörte zum OrganInc-Komplex, in dem die Bosse des Unternehmens lebten. Mit
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