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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake
Autoren: Margaret Atwood
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weiterleben und weitere Organe produzieren, ähnlich wie einem Hummer eine neue Schere nachwuchs, wenn ihm eine abhanden gekommen war. Das war ökonomischer, denn es brauchte viel Nahrung und Pflege, um ein Organschwein aufzuziehen. Es war viel Investitionskapital in Organlnc Farms geflossen. Dies alles wurde Jimmy erklärt, als er alt genug war.

    Alt genug, denkt Schneemensch, während er seine Insektenstiche kratzt, rundherum, aber nicht in der Mitte. Ein idiotischer Gedanke. Alt genug wofür? Um zu trinken, zu ficken, es besser zu wissen? Welchem Schafskopf standen solche Entscheidungen zu? Zum Beispiel ist Schneemensch selbst nicht alt genug für dieses, dieses – wie soll man es nennen? Diese Lage. Dafür wird er nie alt genug sein, kein normaler Mensch könnte je…
    Wir alle müssen den Weg gehen, der uns vorgezeichnet ist, sagt die Stimme in seinem Kopf, eine männliche diesmal, Stil Pseudoguru, und jeder Weg ist einzigartig. Nicht die Art des Weges sollte den Suchenden interessieren, sondern die Bereitwilligkeit und Kraft und Geduld, mit denen jeder Einzelne von uns den bisweilen schwierigen…
    »Scheiß drauf«, sagt Schneemensch. Irgendein billiger Erleuchtungsratgeber, Nirwana für Hohlköpfe. Obwohl er das bohrende Gefühl hat, er könnte dieses Juwel selbst hervorgebracht haben.
    In glücklicheren Tagen natürlich. Ach, so viel glücklicheren Tagen.

    Da menschliche Spenderzellen benutzt wurden, war es möglich, Organe je nach den individuellen Anforderungen zu züchten; die reifen Organe wurden bis zum Zeitpunkt ihrer Verwendung eingefroren. Das war wesentlich billiger, als sich klonen zu lassen, um Ersatzteile parat zu haben – mit ein paar Restfalten zum Ausbügeln, wie Jimmys Vater zu sagen pflegte –, oder in einem illegalen Babygarten auf Vorrat ein oder zwei Kinder zur Organentnahme zu lagern. In subtiler und eleganter Formulierung hoben die Organlnc-Broschüren und Verkaufsprospekte die Effizienz und die nicht unerheblichen gesundheitlichen Vorzüge des Organschwein-Verfahrens hervor. Um die empfindlicheren Gemüter zu besänftigen, hieß es ferner, keines der verstorbenen Organschweine werde zu Speck und Wurst verarbeitet: Schließlich wollte niemand ein Tier essen, dessen Zellen zumindest teilweise mit den eigenen identisch sein könnten.
    Aber im Lauf der Zeit, als in Küstennähe das Grundwasser brackig wurde und der nördliche Permafrostboden taute, als die riesige Tundra von Methangas brodelte und die Dürre im zentralkontinentalen Tiefland kein Ende mehr nahm, als die asiatischen Steppen sich in Sandwüsten verwandelten und Fleisch immer schwerer aufzutreiben war, bekamen manche ihre Zweifel. In der Kantine der Organinc Farms standen auffällig häufig Speck- und Schinken-Sandwiches und Schweinepasteten auf der Speisekarte. Andre’s Bistro nannte sich die Kantine offiziell, aber die Stammgäste nannten sie nur »das Grunz«.
    Wenn Jimmy mit seinem Vater dort aß, wie immer, wenn seine Mutter sich erschöpft fühlte, pflegten die Männer und Frauen an den Nachbartischen schlechte Witze zu reißen.

    »Schon wieder Organschweinragout«, sagten sie.
    »Organschweinpfannkuchen, Organschweinpopcorn. Na komm, Jimmy, iss auf!« Jimmy geriet in Verwirrung: Er wusste nicht mehr, wer was essen durfte. Er wollte kein Organschwein essen, er sah die Organschweine in einer ähnlichen Lage wie sich selbst: Weder er noch sie hatten irgendwo viel mitzureden.
    »Hör gar nicht hin, Süßer«, sagte Ramona. »Sie machen nur Witze, weißt du.« Ramona war eine der Labortechnikerinnen seines Vaters. Sie aß oft mit ihnen zu Mittag, mit ihm und seinem Vater. Sie war jung, jünger als sein Vater, sogar jünger als seine Mutter; und sie sah dem Mädchen im Schaufenster des Friseurs irgendwie ähnlich, hatte den gleichen Schmollmund und genauso große Augen, groß und verschmiert. Aber sie lächelte viel und hatte ihre Haare nicht zu Stacheln frisiert. Ihre Haare waren weich und dunkel. Die Haarfarbe von Jimmys Mutter war, wie sie selbst sagte, schmutzig blond. (»Nicht schmutzig genug«, sagte sein Vater. »He! Scherz. Scherz. Bring mich nicht um!«)
    Ramona aß immer Salat. »Wie geht’s Sharon?«, fragte sie Jimmys Vater und sah ihn mit weit aufgerissenen, ernsten Augen an. Sharon war Jimmys Mutter.
    »Nicht so toll«, pflegte Jimmys Vater zu sagen.
    »Ach, das tut mir Leid.«
    »Es ist ein Problem. Ich mach mir allmählich Sorgen.«
    Jimmy sah Ramona beim Essen zu. Sie nahm immer nur winzige Bissen und
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