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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake
Autoren: Margaret Atwood
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Oder, Jimmy?«
    »Ja«, sagte Jimmy, schniefend.
    »Lass Daddy in Ruhe«, sagte seine Mutter. »Daddy muss nachdenken.
    Dafür wird er bezahlt. Er hat im Moment keine Zeit für dich.«
    Sein Vater warf den Bleistift hin. »Gott nochmal! Kannst du damit mal Ruhe geben?«
    Seine Mutter tauchte ihre Zigarette in die halb geleerte Kaffeetasse.
    »Komm, Jimmy, wir gehen spazieren.« Sie zerrte Jimmy am Handgelenk in die Höhe und schloss mit übertriebener Sorgfalt die Hintertür, als sie hinausgingen. Sie hatte sich und ihm nicht einmal Mäntel angezogen. Keine Mäntel, keine Mützen. Sie war in Hausschuhen und Morgenrock.
    Der Himmel war grau, der Wind eisig; sie ging mit gesenktem Kopf und wehenden Haaren. Rund um das Haus gingen sie, im Eiltempo über den durchweichten Rasen, Hand in Hand. Ihm war, als zerrte ihn etwas mit eiserner Klaue durch tiefes Wasser. Er fühlte sich durchgeschüttelt, als würde jeden Moment alles auseinander gerissen und davongeschleudert. Gleichzeitig jubelte er innerlich. Er sah sich die Hausschuhe seiner Mutter an: Sie hatten schon Flecken aus feuchter Erde. Wenn er seinen Hausschuhen so etwas antäte, bekäme er einen Riesenärger.
    Sie wurden langsamer, blieben stehen. Dann redete seine Mutter mit ihm, in dem ruhigen Nette-Fernsehlehrerinnen-Ton, der bedeutete, dass sie fuchsteufelswild war. Ein Erreger, sagte sie, ist unsichtbar, weil er so klein ist. Er kann durch die Luft fliegen oder sich im Wasser verstecken oder an den schmutzigen Fingern kleiner Jungen, und deswegen sollst du nicht den Finger erst in die Nase und dann in den Mund stecken, deswegen sollst du dir nach dem Klo die Hände waschen, deswegen sollst du nicht…
    »Ich weiß«, sagte Jimmy. »Können wir wieder reingehen? Mir ist kalt.«
    Seine Mutter tat, als hätte sie ihn nicht gehört. Ein Erreger, fuhr sie mit dieser leisen, angespannten Stimme fort, ein Erreger kann in dich eindringen und innen alles durcheinander bringen. Er ordnet dich neu, Zelle für Zelle, und davon werden die Zellen krank. Und du bestehst aus lauter winzigen Zellen, die zusammenarbeiten, damit du am Leben bleibst, und wenn jetzt genügend Zellen krank werden, dann…
    »Könnte ich einen Husten kriegen«, sagte Jimmy. »Ich könnte jetzt gleich einen Husten kriegen!« Er gab ein hustendes Geräusch von sich.
    »Ach, ist ja auch egal«, sagte seine Mutter. Sie versuchte oft, ihm etwas zu erklären, und verlor dann auf einmal den Mut. Das waren die schlimmsten Augenblicke, für sie beide. Er sträubte sich, tat so, als verstünde er nicht, auch wenn er sehr wohl verstand, stellte sich dumm, nur damit sie nicht aufgab. Sie sollte tapfer sein, sollte alles mit ihm versuchen, auf die Mauer einhämmern, die er gegen sie aufgerichtet hatte, nicht aufhören.
    »Ich will aber noch mehr von den winzigen Zellen hören«, sagte er, so weinerlich, wie er wagte. »Ich will!«
    »Nicht heute«, sagte sie. »Gehen wir wieder rein.«

Organlnc Farms
    Jimmys Vater arbeitete bei Organlnc Farms. Er war Genograf, einer der besten auf dem Gebiet. Noch vor seiner Beförderung hatte er einige der entscheidenden Studien für die Kartierung des Proteonoms durchgeführt, und später hatte er im Rahmen der »Operation Unsterblichkeit« an der Erzeugung der Methusalem-Maus mitgearbeitet.
    Danach, bei Organlnc Farms, war er innerhalb eines Teams von Transplantationsexperten und den Mikrobiologen, die Gentransfers gegen Infektionen vornahmen, maßgeblich am Projekt Organschwein beteiligt gewesen. Organschwein war nur ein Spitzname: Die offizielle Bezeichnung lautete Sus multiorganifer. Aber alle sprachen nur vom Organschwein. Manchmal sagten sie auch OrganOink Farms, aber nicht sehr oft. Es war ja auch gar keine Farm, jedenfalls hatte sie keine Ähnlichkeit mit den Bauernhöfen auf Bildern.
    Das Ziel des Projekts war es, auf einem transgenen Schwein als Wirt eine Reihe narrensicherer Organe aus menschlichem Gewebe zu züchten
    – Organe, die sich problemlos und ohne Abstoßungsreaktionen transplantieren ließen, aber auch in der Lage wären, Angriffe von opportunistischen Mikroben und Viren abzuwehren, von denen jedes Jahr neue Stämme auftauchten. Außerdem wurde dem Organschwein ein Wachstumsgen eingesetzt, so dass Nieren, Leber, Herz rascher heranreiften; inzwischen arbeiteten sie an einem Schwein, das fünf bis sechs Nieren gleichzeitig erzeugen konnte. Die überzähligen Nieren ließen sich ernten; das Wirtstier musste nicht vernichtet werden, sondern konnte
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