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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake
Autoren: Margaret Atwood
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und Schweinen. Ihre Beine ragten steif und gerade in die Höhe; sie waren mit Benzin übergossen worden, und die Flammen loderten wild heraus und zum Himmel hinauf, gelb und weiß und orange und rot, und es roch stark nach verbranntem Fleisch. Es war wie der Grill hinter dem Haus, wenn sein Vater etwas briet, aber viel stärker, und darunter mischte sich ein Tankstellengeruch und der Gestank nach verbrannten Haaren.
    Wie verbrannte Haare rochen, wusste er, denn er hatte sich mit der Nagelschere ein Büschel von seinen eigenen Haaren abgeschnitten und mit dem Feuerzeug seiner Mutter angezündet. Die Haare waren knisternd zusammengeschnurrt, ineinander verkrümmt wie ein Nest dünner schwarzer Würmer, und er hatte noch ein Büschel abgeschnitten und ebenfalls angezündet. Als man ihn erwischte, waren seine Haare entlang der Stirn unregelmäßig zerfranst. Sie machten ihm Vorwürfe, und er sagte, es sei ein Experiment gewesen.
    Sein Vater hatte gelacht, seine Mutter nicht. Immerhin, sagte sein Vater, habe Jimmy so viel Verstand bewiesen, die Haare erst abzuschneiden, bevor er sie abfackelte. Seine Mutter sagte, es sei ein Glück, dass er nicht das ganze Haus niedergebrannt habe. Dann stritten sie über das Feuerzeug, das nicht da gewesen wäre (sagte sein Vater), wenn seine Mutter nicht geraucht hätte. Und seine Mutter sagte, alle Kinder seien im Grunde ihres Herzens Brandstifter und ohne Feuerzeug hätte er eben Streichhölzer verwendet.
    Sobald die beiden zu streiten begonnen hatten, war Jimmy erleichtert, denn jetzt wusste er, dass er nicht bestraft werden würde. Er musste nichts weiter tun, als still zu sein, und bald würden sie vergessen, warum sie überhaupt gestritten hatten. Aber er fühlte sich auch schuldig, weil er schließlich die Ursache ihres Streits war. Der, das wusste er, damit enden würde, dass eine Tür zugeknallt wurde. Er versank tiefer und tiefer in seinem Stuhl, während die Worte über seinen Kopf hinwegschwirrten, und schließlich kamen das Türknallen – von seiner Mutter diesmal – und der Windstoß, der es begleitete. Es gab immer einen Windstoß, wenn die Tür zugeknallt wurde, ein kleines Schnauben
    – wuff – direkt in seinen Ohren.
    »Keine Sorge, alter Kumpel«, sagte sein Vater. »Den Frauen platzt immer leicht der Kragen. Sie wird sich wieder abregen. Essen wir ein Eis.« Das taten sie: aßen Himbeereis aus den mexikanischen Müslischalen mit den blauen und roten Vögeln, handgemalt, weshalb sie nicht in die Spülmaschine durften, und Jimmy aß sein Eis ganz auf, um seinem Vater zu zeigen, dass alles okay war.
    Frauen und die innere Hitze, die ihnen den Kragen platzen ließ. Heiß und kalt, ein ständiger Wechsel in dem fremdartigen, moschusduftenden, blütenreichen, wetterwendischen Reich unter ihren Kleidern – geheimnisvoll, wichtig, unkontrollierbar. Das war die Ansicht seines Vaters. Aber um die Körpertemperatur der Männer ging es nie; sie wurde nicht einmal erwähnt, jedenfalls nicht in seiner Kindheit, außer wenn sein Vater sagte: Bleib kühl! Wieso nicht? Warum nichts über die platzenden Kragen der Männer? Diese glatten, scharfkantigen Kragen mit ihren dunklen, schwefeligen, knisternden Unterseiten. Er hätte auch darüber ein paar Theorien brauchen können.

    Am nächsten Tag ging sein Vater mit ihm zu einem Friseur, wo im Fenster das Bild eines hübschen Mädchens mit Schmollmund hing. Das schwarze T-Shirt über eine Schulter heruntergezogen, starrte sie aus verschmierten Kohleaugen, die Haare standen steif wie Federkiele ab.
    Drinnen im Laden war der geflieste Boden voller Haare in Büscheln und Strähnen; sie wurden mit einem Besen zusammengeschoben. Der Friseur legte Jimmy zuerst einen schwarzen Umhang um, aber der war eher eine Art Lätzchen, und das wollte Jimmy nicht, das war kindisch.
    Der Friseur lachte und sagte, das sei kein Lätzchen, denn wer hätte je von einem Baby mit schwarzem Lätzchen gehört? Es war also in Ordnung; und dann bekam Jimmy einen Kurzhaarschnitt verpasst, um die zerfransten Stellen auszugleichen, was vielleicht überhaupt seine wahre Absicht gewesen war – kürzere Haare. Dann bekam er Zeug aus einer Tube auf den Kopf, um die Haare fest zu machen.
    Es roch nach Orangenschalen. Er lächelte sich im Spiegel an, dann schnitt er ein finsteres Gesicht mit gerunzelten Brauen.
    »Harter Junge«, sagte der Friseur und nickte Jimmys Vater zu. »Ein echter Tiger.« Er fegte Jimmys Haare zu den anderen Haaren auf dem Boden, dann nahm er
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