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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake
Autoren: Margaret Atwood
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an den Rest der Wendung zu erinnern versucht. Er setzt sich auf den Boden und beginnt die Mango zu essen.

Treibgut
    Am weißen Strand, zermahlene Korallen und Knochensplitter, geht eine Gruppe Kinder entlang. Sie müssen im Wasser gewesen sein, denn ihre Haut ist noch nass und glänzend. Sie sollten vorsichtiger sein: Wer weiß, womit diese Lagune verseucht ist. Aber sie sind leichtsinnig; anders als Schneemensch, der keine Zehe ins Wasser tauchen würde, nicht einmal nachts, wenn die Sonne ihn nicht erwischen kann.
    Korrektur: vor allem nicht nachts.
    Voller Neid sieht er ihnen zu; oder ist es Nostalgie? Nein, das kann es nicht sein, er ist als Kind nie im Meer geschwommen, ist nie nackt an einem Strand herumgerannt. Die Kinder suchen den Boden ab, bücken sich, lesen Treibgut auf; dann beraten sie miteinander, behalten manche Fundstücke, werfen andere wieder weg; ihre Schätze stecken sie in einen zerlumpten Sack. Früher oder später – darauf kann er sich verlassen – werden sie ihn aufspüren, in seinem zerlumpten Laken, die Arme um die Schienbeine geschlungen und an seiner Mango lutschend, tief im Schatten der Bäume wegen der mörderischen Sonne. Für die Kinder, die dickhäutig und resistent gegen UV-Strahlen sind, ist er ein Geschöpf des Zwielichts, der Dämmerung.
    Da kommen sie schon. »Schneemensch, o Schneemensch«, stimmen sie ihren Singsang an. Sie kommen ihm nie zu nahe. Aus Respekt, wie er gern annähme, oder weil er stinkt?
    (Er stinkt tatsächlich, das weiß er sehr gut. Er mieft, er bockelt, er ranzelt wie ein Walross – ölig, salzig, fischig –, nicht, dass er je so ein Vieh gerochen hätte. Aber er hat Bilder gesehen.) Die Kinder öffnen ihren Sack und singen im Chor: »O Schneemensch, was haben wir gefunden?« Sie nehmen Gegenstände heraus, halten sie hoch wie Ware zum Verkauf: eine Radkappe, eine Klaviertaste, ein Stück einer hellgrünen Limonadeflasche, glatt poliert vom Meer. Eine BlyssPluss-Flasche aus Plastik, leer; einen ChickieNobs-Behälter, ebenfalls leer. Eine Computermaus, jedenfalls der zertrümmerte Rest davon, mit langem drahtigem Schwanz.
    Schneemensch kommen fast die Tränen. Was soll er ihnen sagen?
    Unmöglich kann er ihnen erklären, was diese sonderbaren Gegenstände sind oder waren. Aber sicher haben sie schon erraten, was er sagen wird, er sagt ohnehin immer dasselbe.
    »Das sind Sachen von früher.« Er spricht in freundlichem, aber distanziertem Ton. Eine Kreuzung aus Erzieher, Wahrsager und wohlwollendem Onkel – so sollte sein Tonfall sein.
    »Können sie uns wehtun?« Manchmal finden sie Motoröl und ätzende Lösemittel in Dosen, Plastikflaschen mit Bleichlauge. Versteckte Bomben aus der Vergangenheit. Er gilt als Experte für mögliche Unfälle: ätzende Flüssigkeiten, Übelkeit erregende Dämpfe, Giftstäube.
    Schmerzen sonderbarer Art.
    »Diese nicht«, sagt er. »Die sind harmlos.« Daraufhin verlieren sie das Interesse, lassen den Sack sinken. Aber sie gehen nicht weg: Sie stehen da und starren. Die Treibgutsuche ist eine Ausrede. Hauptsächlich wollen sie ihn ansehen, weil er so anders ist als sie. Manchmal bitten sie ihn, die Sonnenbrille abzunehmen und wieder aufzusetzen: Sie wollen sehen, ob er wirklich zwei Augen hat oder drei.
    »Schneemensch, o Schneemensch«, singen sie, weniger an ihn gerichtet als an einander. Sein Name bedeutet ihnen nichts, für sie sind es einfach zwei Silben. Sie wissen nicht, was ein Schneemensch ist, sie haben nie Schnee gesehen.
    Eine von Crakes Regeln bestand darin, dass kein Name ausgesucht werden durfte, für den sich nicht eine materielle Entsprechung zeigen ließ, und sei sie ausgestopft oder nur noch ein Skelett. Kein Einhorn, kein Drache, kein Mantikor oder Basilisk. Aber diese Regeln gelten nicht mehr, und für Schneemensch war es ein bitteres Vergnügen, sich dieses zweifelhafte Etikett zuzulegen. Der Abscheuliche Schneemensch
    – existent und nicht existent, eine flüchtige Erscheinung am Rand eines Schneesturms, ein affenähnlicher Mensch oder menschenähnlicher Affe, verstohlen, ungreifbar, nur Gerüchte gab es und rückwärts gerichtete Fußspuren. Gebirgsstämme, heißt es, hätten ihn gejagt und, wenn es ihnen gelang, getötet. Sie hätten ihn gekocht, gebraten, ein besonderes Fest veranstaltet – umso erregender, nimmt er an, als dieses Mahl an Kannibalismus grenzte.
    Zu gegenwärtigen Zwecken hat er den Namen abgekürzt. Er nennt sich nur Schneemensch. Das Abscheuliche hat er für sich behalten,
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