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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake
Autoren: Margaret Atwood
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der Zeit wurden zunehmend auch Leute aus dem mittleren Management und Nachwuchswissenschaftler hier untergebracht. Jimmys Vater meinte, es sei besser so, dann müsse niemand zwischen den Modulen und dem Arbeitsplatz pendeln. Trotz der sterilen Verbindungskorridore und der Hochgeschwindigkeitszüge war es immer riskant, die Stadt zu durchqueren.
    Jimmy war noch nie in der Stadt gewesen. Er kannte sie nur aus dem Fernsehen – endlose Plakatwände und Neonreklame und Häuserfronten, hohe und niedrige; schnurgerade, schmuddelig wirkende Straßen, zahllose Fahrzeuge aller Art, von denen manche hinten Rauchwolken ausstießen; Tausende von Menschen, hastend, johlend, randalierend. Es gab auch andere Städte, nahe und ferne; manche mit besseren Wohngegenden, sagte sein Vater, beinahe wie im Organlnc-Komplex, die Häuser von hohen Mauern umgeben; aber die sah man nicht oft im Fernsehen.

    Die Komplex-Bewohner fuhren nicht in die Städte, wenn sie nicht unbedingt mussten, und auf jeden Fall nie allein. Die Städte nannten sie Plebsland. Trotz der Ausweise mit Fingerabdruck, die jetzt jeder bei sich haben musste, war die öffentliche Sicherheit in Plebsland mangelhaft: Dort trieben sich Leute herum, die imstande waren, alles Mögliche zu fälschen, und irgendwer sein konnten, zu schweigen von den Streunern – den Süchtigen, den Straßenräubern, den Armen, den Irren. Es war also das Beste für die Organlnc-Leute, wenn sie alle im selben Komplex lebten, mit narrensicheren Prozeduren.
    Außerhalb der Mauern und Tore und Suchscheinwerfer des Komplexes herrschten unberechenbare Zustände. Im Inneren war alles so, wie es in der Kindheit von Jimmys Vater gewesen war, bevor die Lage so ernst geworden war; das sagte jedenfalls Jimmys Vater. Jimmys Mutter sagte, es sei alles künstlich, es sei nur ein Park und könne nie mehr so werden, wie es einmal gewesen war, aber Jimmys Vater sagte, warum denn alles schlecht machen? Du kannst dich frei bewegen, ohne Angst zu haben, oder nicht? Mit dem Rad fahren, im Straßencafe sitzen, dir ein Eis kaufen? Jimmy wusste, dass sein Vater Recht hatte, denn das alles hatte er selber schon getan.
    Trotzdem mussten die CorpSeCorps-Männer – die Jimmys Vater unsere Leute nannte – in ständiger Alarmbereitschaft sein. Wenn so viel auf dem Spiel stand, konnte man nie sagen, zu welchen Mitteln die andere Seite vielleicht griff. Die andere Seite oder die anderen Seiten: Es gab nicht nur eine andere Seite, vor der man auf der Hut sein musste.
    Andere Unternehmen, andere Länder, die verschiedensten Splittergruppen und Verschwörer. Es gibt zu viel Hardware, sagte Jimmys Vater. Zu viel Hardware, zu viel Software, zu viele feindliche Bioformen, zu viele Waffen aller Art. Und zu viel Neid und Fanatismus und Hinterlist.
    Vor langer Zeit, in den Tagen der Ritter und Drachen, hatten die Könige und Herzöge in Burgen mit hohen Mauern und Zugbrücken gelebt, mit Schießscharten in den Brustwehren, durch die man die Feinde mit siedendem Pech begießen konnte, und die Komplexe, sagte Jimmys Vater, seien im Grunde nichts anderes: Burgen, in denen du und deine Leute sicher und geborgen leben können, und alle anderen bleiben draußen.
    »Dann sind wir die Könige und Herzöge?«, fragte Jimmy.
    »O ja, unbedingt«, sagte sein Vater und lachte.

Lunch
    Auch Jimmys Mutter hatte einmal bei Organlnc Farms gearbeitet. So hatte sie seinen Vater kennen gelernt: Sie arbeiteten beide im selben Komplex und am selben Projekt. Seine Mutter war Mikrobiologin: Ihre Aufgabe war es gewesen, die Proteine der für Organschweine schädlichen Bioformen zu studieren und ihre Rezeptoren dahingehend zu verändern, dass sie sich nicht an die Rezeptoren der Organschweinzellen anlagern konnten, oder aber Medikamente zu entwickeln, die als Rezeptorblocker wirkten.
    »Es ist ganz einfach«, sagte sie zu Jimmy, als sie wieder einmal in Erklärungsstimmung war. »Die schlechten Mikroben und Viren wollen durch Zellentüren eindringen und die Organschweine von innen her auffressen. Mamis Job war es, Schlösser für die Türen zu machen.« Auf ihrem Bildschirm zeigte sie Jimmy Bilder von Zellen, Bilder von Mikroben, Bilder von den Mikroben, die in die Zellen eindrangen, sie infizierten und sprengten, Vergrößerungen der Proteine, Bilder der Medikamente, die sie getestet hatte. Die Bilder sahen aus wie die Bonbonbehälter im Supermarkt: ein durchsichtiger Plastikbehälter mit runden Bonbons, ein durchsichtiger Plastikbehälter mit Geleebananen,
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