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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake
Autoren: Margaret Atwood
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ein durchsichtiger Plastikbehälter mit langen Lakritzstangen. Die Zellen waren wie die durchsichtigen Plastikbehälter, von denen man die Deckel abnehmen konnte.
    »Warum machst du jetzt keine Schlösser für die Türen mehr?«, sagte Jimmy.
    »Weil ich bei dir zu Hause bleiben wollte«, sagte sie, blickte über Jimmys Kopf hinweg und zog an ihrer Zigarette.
    »Und was ist mit den Organschweinen?«, sagte Jimmy alarmiert.
    »Dann können die Mikroben doch in sie eindringen!« Er wollte nicht, dass seine tierischen Kumpel explodierten wie die infizierten Zellen.
    »Darum kümmern sich jetzt andere Leute«, sagte seine Mutter. Es schien ihr völlig gleichgültig zu sein. Sie ließ Jimmy mit den Bildern in ihrem Computer spielen, und als er gelernt hatte, mit den Programmen umzugehen, inszenierte er Kriegsspiele – Zellen gegen Mikroben. Sie sagte, es sei egal, wenn er aus Versehen etwas löschte, das Material sei sowieso veraltet. Aber an manchen Tagen – Tagen, an denen sie lebhaft und zielbewusst wirkte, entschlossen und stabil – wollte sie selbst am Computer herumspielen. Das gefiel ihm – wenn ihr etwas Freude zu machen schien. Dann war sie auch freundlich. Dann war sie wie eine echte Mutter und er wie ein echtes Kind. Aber solche Stimmungen hielten nie lange an.
    Wann hatte sie aufgehört, im Labor zu arbeiten? Als Jimmy die Organlnc-Schule ganztags zu besuchen begann, in der ersten Klasse.
    Was eigentlich widersinnig war, denn wenn sie bei Jimmy zu Hause bleiben wollte, warum hatte sie dann erst damit angefangen, als Jimmy nicht mehr zu Hause war? Die Gründe begriff er nie, und als er die Erklärung zum ersten Mal gehört hatte, war er zu jung gewesen, um groß darüber nachzudenken. Für ihn zählte damals vor allem, dass Dolores fortgeschickt wurde, das Mädchen von den Philippinen, die bei ihnen gewohnt hatte; sie fehlte ihm sehr. Sie hatte ihn Jim-Jim genannt und gelächelt und gelacht und sein Ei genau so gekocht, wie er es am liebsten mochte, und hatte Lieder gesungen und ihm alles durchgehen lassen. Aber Dolores musste gehen, weil Jimmys echte Mama jetzt immer da sein würde – was ihm als besonderer Vorzug präsentiert wurde –, und zwei Mamas brauchte schließlich niemand, oder?
    Oh doch, denkt Schneemensch, oh doch, die brauchte man.

    Schneemensch hat ein klares Bild von seiner Mutter – von Jimmys Mutter –, am Küchentisch sitzend, noch im Morgenrock, wenn er zum Mittagessen von der Schule nach Hause kam. Sie hatte eine Tasse Kaffee vor sich stehen, unberührt; sie starrte aus dem Fenster und rauchte. Der Morgenrock war magentarot, eine Farbe, die ihn noch immer nervös macht, wenn er sie sieht. Normalerweise war kein Mittagessen fertig, und er musste sich selber etwas zu essen machen, wobei die einzige Mitwirkung seiner Mutter darin bestand, dass sie ihm mit tonloser Stimme Anweisungen erteilte. (»Die Milch ist im Kühlschrank. Rechts. Nein, rechts. Weißt du nicht, wo deine rechte Hand ist?«) Sie klang sehr müde, als wäre ihr alles zu viel; vielleicht war er es, der ihr zu viel war. Oder vielleicht war sie krank.
    »Bist du infiziert?«, fragte er sie eines Tages.
    »Was meinst du damit, Jimmy?«
    »Wie die Zellen.«
    »Oh. Verstehe. Nein«, sagte sie. Dann, nach einem Augenblick:
    »Vielleicht doch.« Aber als sie sein Gesicht sah, kurz vor dem Weinen, nahm sie es wieder zurück.

    Mehr als alles wollte Jimmy sie zum Lachen bringen – er wollte sie wieder so glücklich sehen, wie er sie in Erinnerung hatte. Er erzählte ihr lustige Vorfälle aus der Schule oder versuchte Ereignisse besonders witzig darzustellen oder erfand einfach etwas (»Carrie Johnston hat auf den Boden gepinkelt«). Er tollte im Zimmer herum, schielte und kreischte wie ein kleiner Affe, ein Trick, der bei einigen kleinen Mädchen aus seiner Klasse und bei fast allen Jungen funktionierte. Er strich sich Erdnussbutter auf die Nase und versuchte sie mit der Zunge abzulecken. Meistens war seine Mutter von seinem Theater nur irritiert:
    »Das ist nicht lustig, das ist ekelhaft.« – »Hör auf damit, Jimmy, ich krieg Kopfweh davon.« Aber manchmal konnte er ihr auch ein Lächeln entlocken, oder sogar mehr. Er wusste nie im Voraus, ob es klappte.
    Von Zeit zu Zeit wartete ein echtes Mittagessen auf ihn, ein Essen, das so arrangiert und so extravagant war, dass er erschrak, denn was war der Anlass? Gedeck, Papiertischtuch – ein buntes Papiertischtuch, wie bei einer Party –, ein Erdnussbutter-Gelee-Sandwich, seine
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