Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Orchideenstaub

Orchideenstaub

Titel: Orchideenstaub
Autoren: Tanja Pleva
Vom Netzwerk:
ein Visum Ihrer Landsleute bei der Botschaft in Bogota, um nach Deutschland zu reisen. Ich habe nie eines beantragt, folglich war ich auch nie in Ihrem Revier.“
    Sams Kehle war plötzlich trocken. Er griff zu einem Glas Wasser, das er sich zusammen mit dem Whiskey bestellt hatte, und leerte es halb.
    „Sie sind mit einem falschen Pass eingereist. Mit dem Pass von einem jungen Deutschen, der vor zwei Monaten hier erschossen wurde. Wahrscheinlich von Ihnen.“
    „Beweisen Sie es“, sagte Nevio gelassen. „Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?“
    „Sie sind … Rafael Rodriguez’ Sohn und … der Enkel von Heinrich Thiel“, antwortete Sam mit schwerer Zunge. Der Schluck Whiskey setzte ihm ganz schön zu, dachte er und sah auf die bernsteinfarbene Flüssigkeit, die die Eiswürfel umschloss. Er schob es darauf, dass er so gut wie nie Alkohol trank.
    „Sie sind ganz schön schlau. Respekt“, sagte Nevio bewundernd. „Er hat meine Mutter zur Abtreibung gezwungen, aber nicht damit gerechnet, dass ich am Leben bleiben könnte. Dabei hatte er so viele Experimente mit Föten gemacht, dass er hätte wissen müssen, dass es möglich ist. Aleida hat mich aus der Mülltonne geholt und mir damit das Leben gerettet.“
    „Und daran konnten Sie sich noch erinnern?“, fragte Sam sarkastisch und suchte wieder nach Juri auf der Straße, aber der Kerl war nirgendwo zu sehen. Seine Zunge klebte am Gaumen und er fühlte sich plötzlich sehr unwohl.
    „Ich habe ein Gespräch zwischen Aleida und meiner Ziehmutter belauscht, und habe so erfahren, wo meine wahren Wurzeln sind. Ich hatte mich eh immer gewundert, warum ich so anders aussah wie der Rest der Familie, in der ich aufwuchs. Von dem Moment an als ich hörte, dass mein Großvater meine Mutter dazu gezwungen hatte, mich abzutreiben, und sie daraufhin nie wieder aufgetaucht ist, habe ich nur noch eins im Sinn gehabt. Rache. Haben Sie Durst?“
    Sam hatte tatsächlich das Gefühl zu verdursten. Er sah Nevio skeptisch an, der ihm das Glas Whiskey zuschob.
    „Trinken Sie.“
    Sam setzte das Glas an und nippte nur. Eine innere Stimme sagte ihm, dass irgendetwas nicht stimmte. Hatte Nevio ihm etwas ins Glas geschüttet?
    „Es sollte keine Frau mehr an der Seite meines Vaters leben dürfen und ich wollte der einzige Nachfahre bleiben. Ich hab ihm Zeichen gegeben in einer Sprache, die er versteht und er hat nicht reagiert.“
    „Warum haben Sie die unschuldigen Frauen in Deutschland umgebracht? Sie konnten nichts für Ihr persönliches Schicksal.“
    „Indirekt schon. Die Vergangenheit zu ignorieren heißt nicht, sie ungeschehen zu machen. Ich wollte Zeichen setzen und dachte, mit der Enkelin von dieser Ärztin und dem Sohn von Dr. Fisher würde man nachhaken, aber weit gefehlt.“
    „Dem Sohn von Dr. Fisher? Wo?“
    „In London. Ich habe ihm auch eine Injektion ins Herz gejagt … ziemlich unblutig und unspektakulär. Ich musste also erst zu drastischeren Maßnahmen greifen und grob werden. Und siehe da, alle Welt hört mir plötzlich zu. Ein berauschendes Gefühl.“
    „Und die Bücher?“, fragte Sam knapp. Ihm war plötzlich total schwindelig. Er musste Wasser trinken, aber sein Griff ging daneben. Nevio half ihm und schob das Glas in seine Hand. Doch Sam fühlte sich inzwischen außerstande, es an den Mund zu heben.
    „Ja, die Bücher, der Alte war etwas unachtsam. Er hatte sie hinter dem Heim verbrennen wollen. Fünf Stück konnte ich vor den Flammen retten. Daraufhin habe ich mir die deutsche Sprache zu eigen gemacht. Seien Sie mir dankbar, ich habe Ihnen zwei Schwerverbrecher geliefert.“
    Nevio verschwamm vor Sam zu einer wabernden Masse. Er rang um Orientierung und plötzlich wurde ihm klar, in welcher aussichtslosen Situation er sich befand. Sein Herzschlag beschleunigte sich rasant.
    „Es tut mir leid, aber ich muss den Vorsprung nutzen. Leben Sie wohl.“ Nevio erhob sich aus seinem Stuhl, klopfte Sam kumpelhaft auf die Schultern und verließ die Bar.
    Sam versuchte, jemand um sich herum zu erkennen. Er musste seinem Tischnachbarn erklären, dass er dringend Hilfe brauchte, aber er konnte sich nicht mehr artikulieren, geschweige denn von der Stelle rühren. Es war, als würde ihm jemand von innen die Kehle zudrücken. Er bekam keine Luft mehr. Das war der Moment, in dem ihm klar wurde, dass die Prophezeiung doch in Erfüllung gehen würde. Sein Tod. Lina hatte am Ende doch Recht behalten. Sam gab es auf zu kämpfen und ließ sich langsam in die Dunkelheit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher