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Orchideenstaub

Orchideenstaub

Titel: Orchideenstaub
Autoren: Tanja Pleva
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tragen.
     
     

63.
     
     
     
    Nevio war über die Straße zu den Künstlern gegangen. Von hier konnte er das Schauspiel des Todes gut beobachten.
    Sam O’Connor war inzwischen vom Stuhl gesackt und hatte die Aufmerksamkeit der anderen Gäste in der Bar auf sich gezogen. Er hatte oft Leute sterben sehen. Wie viele es waren, konnte er gar nicht mehr sagen. Der Kampf um das Leben war faszinierend, vor allem, wenn sie begriffen, dass etwas mit ihnen passierte, worüber sie keine Kontrolle mehr hatten. Wenn der Lebensfaden immer dünner wurde, bis er ganz abriss und die Seele sich aus dem nicht mehr funktionierenden, sterbenden Körper verabschiedete.
    Er hatte den beiden Deutschen eine tödliche Überdosis der Teufelspflanze in ihr Getränk gegeben. Beide würden in eine tiefe Bewusstlosigkeit fallen und schließlich würde eine Atemlähmung zum Tod führen. Ein gnädiger Tod, fand Nevio. Bei einer geringeren Dosis verloren die Opfer ihren freien Willen. Sie überließen einem alles, räumten noch ihr Bankkonto für einen leer und dachten noch, man wäre der beste Kumpel aller Zeiten. Alles hatte er schon erlebt. Und das beste an der Droge war, dass sie die Erinnerung blockierte. Das Opfer erinnerte sich an nichts mehr, im Gehirn wurde nichts gespeichert. Nicht einmal unter Hypnose würde man etwas in Erfahren bringen können.
    Ein Krankenwagen hatte die Schicksalsstelle erreicht und die Sanitäter bahnten sich einen Weg durch die Menschenmenge, um an den sterbenden Mann heranzukommen.  Nevio sah auf die Uhr. Kaum fünf Minuten hatte es gedauert. Der jüngere Mann war verschwunden. Aber er war sich sicher, dass es ihm nicht anders ergehen würde, sofern er genug getrunken hatte. Die Sanitäter schoben Sam O’Connor in den Krankenwagen und schlossen die Türen. Für ihn kamen jegliche lebensrettenden Maßnahmen zu spät. Das konnte er an den Gesichtern der Umstehenden sehen.
    Nevio musste wieder über die Naivität, die manche Menschen antrieb, lächeln. Er war ein Profi, dafür war er auch durch eine harte Schule gegangen. Als er mit zwölf Jahren von seiner wahren Herkunft erfuhr, hatte er nichts anderes mehr im Sinn gehabt, als sich eines Tages zu rächen. Rächen an dem Menschen, der ihm und seiner Mutter das angetan hatte. Seine Mutter musste dran glauben, weil er in ihr gewachsen war und weil sein Vater sie zur Frau wählte. Er wusste nicht einmal, wie sie ausgesehen hatte.
    Aleida hatte den todgeglaubten Fötus, der wie eine Ratte aussah, aus einer Mülltonne gerettet. Ihn in ein warmes Tuch gewickelt und in die Klinik gebracht, in der seine spätere Ziehmutter arbeitete. Daniela zog ihn wie einen eigenen Sohn auf. Doch als er schwierig wurde und sie nicht mehr mit ihm fertig wurde, beklagte sie sich jede Woche bei ihrer Schwester. Eines Tages, als sie dachten er wäre nicht zu Hause, dabei war er hinter der alten Wellblechhütte und fütterte die Hühner, wurde er Zeuge ihrer Konversation. Hättest du ihn nur nicht aus der Mülltonne gezogen und zu mir gebracht … wir hätten ihn zur Adoption freigeben sollen … warum hast du ihn nicht ausgesetzt … Immer wieder verfluchte sie den Tag, als Aleida mit ihm in der Klinik aufgetaucht war. Von da an, als er unfreiwillig von seiner wahren Herkunft erfuhr, änderte sich alles für ihn. Rache bestimmte sein Leben. Dafür lernte er fast perfekt Deutsch, dafür schloss er sich einer Bande an, verkaufte Drogen, beging Auftragsmorde für die Reichen, die sich in ihrer Ehre gekränkt fühlten, wenn jemand anders abgebrühter war, als sie selbst und sie um Gelder beschiss, die sie sich ohnehin nicht ehrenhaft verdient hatten, und ließ seine eigentliche Familie nicht aus den Augen. Tötete die Frauen und potenziellen Nachkommen seines Vaters.
    Er hatte gedacht, dass Rache befriedigend sein würde, stattdessen war die Leere in seinem Herzen immer größer geworden. Er fühlte sich niemand zugehörig, von aller Welt allein gelassen, entwurzelt, verstoßen und unverstanden. Nevios Augen füllten sich mit Tränen. Er drehte sich um und verließ den Park. Er würde die Stadt verlassen, vielleicht sogar das Land. Nevio Betancourt war mit dem heutigen Tage, mit siebenundzwanzig Jahren, nun endgültig gestorben.
    Er setzte sich auf sein Motorrad und fuhr auf die Autopista Richtung Norden, Richtung Küste, Richtung Meer.
     
     

64.
     
     
     
    „Man sagt, dass kolumbianische Indianerstämme, Scopolamin benutzten, um die Frauen verstorbener Häuptlinge lebendig mit ihnen zu
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