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Opernball

Opernball

Titel: Opernball
Autoren: Josef Haslinger
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Auf den Boden legte er ein paar Bücher. Immer noch waren seine Augen entzündet. Auch das Gesicht zuckte. Aber er wirkte viel frischer als am Vortag.
    »Ich habe keine eigene Geschichte«, sagte er. »Haben Sie vom Geringsten gehört? Seine Geschichte war meine Geschichte. Bis vor kurzem jedenfalls. Schalten Sie das Band ein.«
    Ich sagte, das Mikrofon sei nicht gut genug, er müsse näherkommen. Der Ingenieur beharrte darauf, daß ich näher an ihn heranrückte. Wir saßen dann etwa drei Meter auseinander. Die Pistole ließ er keinen Augenblick aus den Händen.
    Offensichtlich verglich er die Jugend des Geringsten mit der Adolf Hitlers. Am Anfang verwendete er selbst, wenn er vom Vater des Geringsten sprach, Formulierungen von Adolf Hitler über dessen Vater. Später ließ er das bleiben. Dann zog er ein anderes Buch heran. Es war die Bibel. Wenn er vom Geringsten redete, lag immer ein bewundernder, schwärmerischer Ton in seiner Stimme. Er wollte ihn mir als Heiligen andrehen. Es dauerte eine Weile, bis ich dahinterkam, daß er vom Führer der Bewegung der Volkstreuen sprach. Über die anderen Gruppenmitglieder redete er sachlicher. Er machte Pausen zwischen den Sätzen, weil er sie sich offenbar vorformulierte. Wenn das Band zu Ende war, warf er mir eine neue Kassette zu. Mit der Zeit ergab alles einen Zusammenhang. Aber ich wußte nicht, was stimmte und was nicht. Wenn ich ihn unterbrach, fuhr er mich an und hob die Pistole.
    Nachdem er drei Bänder besprochen hatte, verlangte er, daß ich in den Nebenraum gehe, den ich bisher nicht kannte. Auf einem Tisch stand eine Schreibmaschine, daneben lag Papier. Es gab noch ein Bücherregal und am Boden eine Matratze, auf der zusammengeknüllte Decken lagen. Er befahl mir, die Bänder abzutippen. Wenn ich langsamer wurde, trieb er mich zur Eile an.
    »Kein Wort wird verändert«, sagte er. Sobald ich eine Seite geschrieben hatte, las er sie, während ich weitertippte. Er schien zufrieden zu sein. Er stieß sich auch nicht an den Sätzen, mit denen er meine Einwände abgeblockt hatte.
    Als ich die drei Bänder endlich abgetippt hatte, war es schon Nachmittag. Ich durfte ein paar Mandeln und Oliven essen. Dann befahl er mir, neuen Tee zu machen. Das Feuerzeug mußte ich in der Küche liegen lassen. Er ließ mich keine Zigarette rauchen. Es ging weiter. Ich mußte die alten Kassetten einlegen, so daß sie überspielt wurden. Als er später vom Buch Mormon sprach, dachte ich mir, der kommt sich vor wie Joseph Smith. Er will eine neue Religion begründen. Der Geringste ist sein Engel Moroni.
    Zwischendurch fielen mir die Augen zu. Ich riß mich zusammen. Als er von der Bestrafung und Ermordung Feilböcks berichtete, ging er auf und ab, blieb zwischendurch stehen und starrte mich an. Ich hatte gedacht, ich müßte die drei Bänder wieder abtippen. Aber das schien ihm inzwischen nicht mehr wichtig zu sein. Er warf mir von den Kassetten, die er am Vortag aus meiner Umhängetasche genommen hatte, neue zu. Nie kam er mir nahe. Manchmal rieb er sich mit einer Hand das Gesicht. Dabei schaute er mich zwischen den Fingern hindurch an. Bevor er ins Waschbecken pißte, trieb er mich in die Küche. Ich mußte vor der Zisternentür stehen.
    Als er von der Wiederbegegnung mit dem Geringsten auf der Donauinsel erzählte, traten ihm Tränen in die Augen. Er sah lange zu Boden. Einmal legte er die Pistole vor sich auf den Sessel. Zwar hatte ich nach wie vor keine Vorstellung, wie es mit mir weitergehen könnte – nach dem, was er mir erzählt hatte, mußte ich das Schlimmste befürchten –, aber ich war nicht in der Lage, die Gelegenheit zu nutzen. Am Schluß war der Ingenieur verzweifelt. Er nahm meine Einwände auf. Er stellte sogar Fragen. Aber dann fuhr er mich plötzlich an. Er zwang mich mit der Pistole, das Band abzuschalten. Ich mußte mich zurück an die Mauer setzen. Es war mittlerweile halb neun Uhr abends. Bald würde es dunkel werden.
    Der Ingenieur lief wie ein Verrückter herum. Er hatte nunmehr wieder Mühe, sein Gleichgewicht zu halten. Das Gesicht zuckte. Er fragte: »Wie hast Du dir das mit der Flucht vorgestellt?« Er duzte mich erstmals.
    »Ich müßte telefonieren.«
    »Keine Rede.«
    Dann schwieg er wieder und lief auf und ab. Er ließ mich nichts essen und nichts trinken. Ich saß da und schaute ihm zu, wie er herumlief und dann wieder eine Weile zusammengesunken dasaß. Mir war, als müßte ich jeden Moment einschlafen. Gleichzeitig hatte ich aber Angst vor der
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