Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Opernball

Opernball

Titel: Opernball
Autoren: Josef Haslinger
Vom Netzwerk:
stärksten Kraft geworden. Sie hatte zwar nicht die absolute Mehrheit, aber es gab keinen Zweifel, daß sie mit der Regierungsbildung beauftragt würde. Die Sozialdemokraten hatten knapp 25 Prozent der Stimmen erreicht.
    Gabrielle trank mehrere Gläser Sekt.
    »Meinst Du das ernst?« fragte ich sie.
    »Ja.«
    »Und wohin willst Du gehen?«
    »In die Vereinigten Staaten.«
    »Und was willst Du dort machen?«
    Sie zuckte mit den Achseln. Dann fiel sie mir um den Hals.
     
    Auf einer Ergänzungsliste fand ich den Namen eines Berliner Universitätsprofessors. Er war offenbar erst Wochen später an den Folgen des Anschlags gestorben. Ich weiß nicht, warum ich gerade ihn auswählte. Es war mehr oder weniger Zufall. Durch die Auslandsauskunft erhielt ich seine Berliner Telefonnummer. Ich rief an. Es meldete sich eine bedrückt wirkende Frauenstimme. Ich stellte mich vor. Sie sagte, sie sei viel zu traurig, um sich mit einem Journalisten zu unterhalten. Ich sagte: »Ich rufe nicht beruflich an. Mein Sohn Fred ist beim Anschlag ums Leben gekommen. Es ist mir ein Bedürfnis, mit anderen Menschen zu reden, die Angehörige verloren haben.«
    Sie zögerte. »Ich bin nur zufällig hier, weil ich eine Inventarliste der Wohnung meines Vaters erstellen muß. Eigentlich lebe ich in Frankfurt.«
    »Erlauben Sie mir, nach Frankfurt zu kommen?«
    »Das ist nicht nötig. Ich komme in vier Tagen nach Wien. Dort wohnt meine Schwester. Ich muß mit ihr die Erbschaft regeln.«
    Sie gab mir die Telefonnummer ihrer Schwester.
    »War Ihr Vater allein auf dem Opernball?«
    »Nein, mein Mann und ich waren bei ihm. Aber wir sind früher gegangen.«
    Fünf Tage später traf ich Claudia Röhler in der Meierei im Stadtpark. Sie war in meinem Alter. Und sehr attraktiv. Ihr Gesicht wirkte ganz weich. Sie betrachtete mich mißtrauisch. Die Frage »Was will dieser Typ von mir?« stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. Ich erzählte ihr von Fred und von meiner Unfähigkeit, mich mit seinem Tod abzufinden. Sie begann sich zu interessieren. Langsam wich ihr Mißtrauen. Immer wieder stellte sie Fragen. Manchmal brachte sie mich in Verlegenheit. Sie wollte wissen, woher meine obsessive Vaterliebe komme. Sie sagte: obsessiv. Ich erzählte ihr, daß ich Fred früher vernachlässigt habe. Dann sprach ich von meiner Scheidung. Später fragte sie mich, ob Fred nicht darunter gelitten habe, daß ich ihn als mein Werk betrachtete. Mein Gott, dachte ich, woher weiß die das? Ich kam mit einem leeren Band nach Hause. Am nächsten Tag trafen wir einander am selben Ort und zur selben Zeit. Es war schönes Vorfrühlingswetter. Claudia Röhler wollte Spazierengehen. Wir verließen die Meierei und gingen zum Fluß hinab. Langsam schlenderten wir die Uferbalustrade entlang, von der Brücke beim Hilton bis zum sogenannten Wienabschluß, jenem pompös gestalteten Tunneleingang, durch den die Wien unter dem Karlsplatz durchfließt. Dann gingen wir wieder zurück. Ich hatte den Recorder an meine obere Sakkotasche geklemmt. Einmal blieb sie stehen und legte ihre Hand auf meinen Arm. Sie zeigte mir, wie ihr Vater immer stehengeblieben war. Ich wünschte mir, es wäre mehr als eine Demonstration. Entlang der Uferbalustrade waren Nischen mit Steinbänken. Wir setzten uns, und sie nahm eine Zigarette von mir. Sie blickte mich selten an, wenn sie sprach. Ihre Füße spielten mit einem am Boden liegenden Aststück. Als sie vom Tod ihres Vaters erzählte, traten ihr Tränen in die Augen. Ihr Gesicht rötete sich. Aber sie sprach weiter. Am Ende sagte sie, sie sei froh, daß sie mir das alles erzählt habe. Es habe ihr gutgetan.
    Ich fragte sie: »Woher kommt Ihre obsessive Vaterliebe?« Sie lachte. Gleich danach wurde ihr Gesicht wieder ernst. Sie schaute mich an. Dann fragte sie mich: »Werden wir uns wiedersehen?«
    Ich gab ihr meine Telefonnummer. Sie wollte mir aber nicht ihre Frankfurter Nummer geben.
    »Ich könnte sie herausfinden«, sagte ich.
    »Ja, das könnten Sie. Aber Sie werden es nicht tun.«
    Bis heute warte ich auf ihren Anruf. Mehrmals hörte ich ihre Bänder ab. Die Art, wie sie über ihren Vater sprach, berührte mich. Dabei hatte ich erstmals den Gedanken, aus diesen Bändern und aus Freds Geschichte ein Buch zu machen.
     
    In der Karlsplatzpassage kamen mir zwei junge Polizisten entgegen. Den größeren von ihnen erkannte ich. Es war jener tolpatschige Mann, den ich in den Vorspann zur Opernball-Übertragung eingebaut hatte. Fred hatte mir zwei Versionen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher