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Op Oloop

Op Oloop

Titel: Op Oloop
Autoren: Juan Filloy
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10:00
    Es schlug zehn.
    Er hatte schon alle Einladungen geschrieben. Nur den Umschlag der letzten mußte er noch aufsetzen, für seinen intimsten Freund: Piet Van Saal. Doch eine große Kraft hielt ihn davon ab. Etwas wie bleierne Krallen legte sich auf seine Schultern und zog ihn von seinen Pflichten fort.
    Er blieb lange Zeit mit dem Kopf gegen die Rückenlehne des Drehstuhls gelehnt sitzen. Die Schlaffheit schien ihm einen Bart wachsen zu lassen. Später öffnete er sanft die Augen, und als wolle er die Müdigkeit täuschen, näherte er seinen Oberkörper langsam wieder dem Schreibtisch. Er blickte nach links und rechts, voller Vorsicht – wie jemand, der eine Schandtat im Sinn hat – und nahm die Feder. Doch er konnte nicht mehr schreiben als das S von Señor. Ein schlankes und elegantes S in Form eines Schlachterhakens. Und an ihm hängte er das Fleisch auf: seine Ermüdung und die Seele: seinen Überdruß.
    Op Oloop hatte sich gerade einmal mehr davon überzeugt, daß es nicht möglich ist, sich selbst untreu zu sein. SONNTAG: VON SIEBEN BIS ZEHN SCHREIBEN, lautete die Regel. Wenn das Leben wie eine Gleichung geordnet ist, kann man die mathematischen Zusammenhänge nicht außer acht lassen. Er war nicht dazu in der Lage, irgendeinen Verstoß gegen die festgelegten Normen zu begehen; nicht einmal zu dem äußerst geringen graphischen Verstoß, Namen und Anschrift auf einen bereits angefangenen Umschlag zu schreiben.
    »Ich werde ihn persönlich übergeben«, tröstete er sich.
    Op Oloop, bedächtiger Henker jeglicher Spontaneität, war bereits die Methode in persona. Die zum Wort gewordene Methode. Die Methode, die Illusionen, Gefühle und Willensäußerungen tiefgründig kanalisiert. Die schon verinnerlichte Methode, die das Aufbäumen des Geistes und die Bocksprünge des Fleisches vermeidet. Wie war ihr rhythmisches Auf und Ab zu unterbrechen? Wie ihr gewohnheitsmäßiger Fluß abzuändern?
    »Es ist vergeblich. Ich werde nie frei sein können. Die Gewohnheit hat mir ihre grausamen Fesseln angelegt. Ich wollte nichts anderes, als an mir arbeiten, vom Kleinen aus groß werden, wie einer dieser winzigen Juwelen der Renaissance, die in Geduld ziseliert, die Würde einer allzeit frischen Intuition und lang gepflegter Scharfsinnigkeit aufweisen. Aber ich habe mich wie ein Idiot in der bitteren Schule der Beschränkung geübt. Ich habe aus meinem Geist ein Uhrwerk von unentrinnbarer Genauigkeit gemacht, mit Weckläuten und leuchtendem Zifferblatt … Ich höre und sehe mein ›genaues‹ Scheitern in jedem Augenblick. Und ich leide daran, mich nicht besiegen zu können, indem ich die unwürdige Kunst besiege, die vom zartesten Skrupel bis zum stärksten Impuls alles erstickt hat. Ein neuartiges Moment des Aufbegehrens, gestern schüchtern, heute unerbittlich, arbeitet in der dichtbesiedelten Betrübnis meiner Ideen. Unfruchtbar. Mich hat die Gier kastriert, etwas sein zu wollen – etwas Bedeutendes! – im Konzept der Welt. Und mir ist es nur im pathologischen Sinne des Wortes gelungen, viel zu sein: ein lebendiger Schmerz, der verborgen unter all den Stunden und der Lüge meiner eigenen Unterwerfungen dahingleitet.«
    Er sprach nicht. Seine Stimme war nach innen gerichtet, an einen in seinem Bewußtsein zusammengekauerten daimon.
    Der valet trat in diesem Moment ein.
    »Señor, ich erlaube mir Sie daran zu erinnern, daß Sie heute, Sonntag, um halb elf, Ihr türkisches Bad nehmen müssen. Sie haben nur noch wenige Minuten, um rechtzeitig hinzugelangen. Soll ich den Wagen bestellen?«
    »Immer noch kommen Sie mir mit so etwas! Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich niemals irgend etwas vergesse. Der Wagen ist bestellt. Übergeben Sie noch heute diese Korrespondenz an ihre jeweiligen Empfänger.«
    Die automatische Bewegung des sich neigenden Kopfes ließ die Bartspitze des Bediensteten gegen seinen Brustkorb stoßen. Unter Bücklingen überreichte er Hut, Stock und Handschuhe.
    Es gibt Menschen, welche die Tage, die sie durchleben, an den in Straßenbahnen ausgegebenen Fahrkarten erkennen, an den Bankbenachrichtigungen über die nächsten Fälligkeiten oder an den Almanachen der Schreibstuben, wo sie kostenlos ihre Federhalter mit Tinte auffüllen. Op Oloop gehörte nicht zu ihnen. Sein Haus war eine lebendige Agenda, ein peinlich genaues Archiv, ein Stapelplatz für mementos. Jede Wand stellte eine Fülle von Übersichtstabellen, statistischen Karten und mehrfarbigen Diagrammen zur Schau. Jedes Möbelstück war
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