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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Autoren: dtv
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    Oleg Turjenkow schlief. In der Ferne war das Donnern der deutschen Geschütze zu hören. Sprengbomben, Brandbomben und Granaten fielen auf die sterbende Stadt Leningrad, die nicht bereit war, den Kampf aufzugeben. Es war Dezember 1942.
    Oleg Turjenkow schlief und träumte. Es war fast immer derselbe Traum . . .
    Dutzende von Lastern bewegten sich, im Zickzack fahrend, über den zugefrorenen Ladogasee. Wie eine weiße Hölle voller Gefahren und Unsicherheiten erstreckte sich vor ihnen die beschneite Eisfläche. Wo lagen die schwachen Stellen? Wo die Waken, die Löcher im Eis? Der Tod fuhr mit. Er hockte auf jedem der Laster, die mit Lebensmitteln auf dem Weg in das belagerte, ausgehungerte Leningrad waren.
    Rutschende Räder . . . berstendes Eis . . . aufspritzendes Wasser! Links versank Solymski mit seinem Beifahrer in der Tiefe: Einen Augenblick schwankte der Laster, während das Eis unter den Rädern brach. Dann tauchte die Nase zwischen den Schollen unter. Langsam, quälend langsam verschwand eine kostbare Ladung Lebensmittel im eisigen Wasser. Und Solymski und sein Beifahrer in der kleinen versinkenden Kabine sahen sich untergehen. Ein Wassertier mit scheußlichem Kopf und vorquellenden Augen – so tauchte der Laster noch einmal aus der dunklen Tiefe auf. Mit gewaltigenFlossen zerschlug er das Eis. Die Windschutzscheibe barst . . .
    Der Konvoi fuhr weiter. Niemand durfte anhalten, um Hilfe zu leisten. So lautete der Befehl.
    Und in der Ferne der Donner der deutschen Geschütze. Aus der dunklen Frostnacht schob sich das erste Morgengrauen am Horizont hoch.
    Im Traum saß Oleg neben seinem Vater in der Kabine.
    »Nach links!«, murmelte er im Schlaf. »Vater, nach links! Nach links!« Er wollte die Worte hinausschreien, aber seine Kehle war zugeschnürt.
    Im Traum sah er das ruhige und vertraute Gesicht seines Vaters wie in einem Film vor sich. Sein Vater schaute durch die zugefrorene Windschutzscheibe auf das Eis, auf die Spuren, die die Wagen vor ihm durch den Schnee zogen. Er drehte das Lenkrad jedoch nicht nach links, sondern nach rechts.
    Unter dem Eis schwamm das Wasservieh riesenhaft groß vor dem Lastwagen her. Schnee . . . schwarzes Eis . . . Wasser . . . Dazwischen die Flossen, das große Fischmaul, die vorquellenden Augen . . .
    Plötzlich erklang aus einem schwarzen Loch im Himmel schauriges Geheul. Ein einsames Jagdflugzeug stürzte aus den Sternen nach unten. Die Maschinengewehre ratterten. Die Sterne barsten zwischen Eisschollen und aufspritzendem Wasser auseinander, als die ersten Granaten einschlugen. Olegs Vater umklammerte verbissen das Lenkrad und wich abermals nach rechts aus. Schräg hinter ihm kippte Iwanows Wagen um. Das Eis brach . . . Neben ihm fuhr Pawlitschko mit zersplitterter Windschutzscheibe in eineWake und verschwand mit seinem Beifahrer und allen Lebensmitteln in der Tiefe des Sees.
    Der Kopf des Jungen bewegte sich im Schlaf auf dem Kopfkissen hin und her, als ob er zu all diesen Traumbildern Nein sagen wollte. Er murmelte unverständliche Worte und krallte die Hände in die Bettdecke.
    Wie wild gewordene Elefanten fuhren die Laster im Zickzack über das Eis, um den Kugeln, Granaten und Waken zu entgehen. Der Tod fuhr mit.
    Mit rutschenden Rädern lenkte Olegs Vater seinen Wagen über die weiße Fläche. Sah er den dunklen Fleck nicht, wo der Schnee weg geweht war?
    »Nach links, Vater! Nach links!«
    Doch wieder wich sein Vater nach rechts aus. Die Entfernung des dunklen Flecks betrug nur noch vierzig Meter . . . noch dreißig . . . noch zwanzig . . .
    Dort war die Rille im Eis, wo der Schnee zu einem weißen Rand zusammengeweht war. Noch wenige Meter, dann . . . Das Krachen im Eis übertönte das Rattern des Motors. Das Vorderrad bohrte sich in die Schneeschicht, der Wagen blieb stecken und das Hinterrad brach ein. Dröhnend schlug die Ladefläche voll mit Kisten und Säcken auf das splitternde Eis. Dunkles Wasser färbte den Schnee. Der Motor stotterte . . .
    Langsam, quälend langsam sank nun auch der Wagen seines Vaters zwischen den Schollen ins eisige Wasser des Ladogasees. Tiefer, immer tiefer . . .
    Das furchtbare Wassertier schwamm riesig groß an den Fenstern der Kabine vorbei, in der, Todesangst in den Augen, sein Vater saß . . .
    Schweißnass wurde Oleg wach. Abermals hatte er vondem Konvoi geträumt, bei dem sein Vater umgekommen war. Es dauerte eine Weile, bis er sich allmählich seiner Umgebung bewusst wurde.
    Was täglich im belagerten Leningrad geschah, gab
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