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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Autoren: dtv
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seiner Mutter. Kleine Geschwüre von der Unterernährung entstellten ihre Lippen und die rechte Wange. Ob seine Mutter fürchtete, dass sie sterben würde?
    »Soll ich nicht zu Dr. Kirow gehen und fragen, ob er kommen kann?« Oleg hatte das schon mehrmals vorgeschlagen, doch seine Mutter schüttelte auch jetzt wieder den Kopf. Der Arzt würde gewiss keine Zeit haben. Er musste sich um die Soldaten kümmern, die verwundet von der Front zurückkamen, und um die Opfer der Luftangriffe. Gegen Hunger und Erschöpfung konnte Dr. Kirow ohnehin nichts ausrichten. Täglich starben Hunderte in der Stadt. Das war ein Teil des Preises, den Leningrad für die Freiheit bezahlte.
    »Aber etwas anderes musst du für mich tun«, sagte seine Mutter. Sie streckte die Hand nach ihm aus und zog ihn näher an ihr Bett. »Du musst zu Onkel Wanja gehen. Bitte ihn, er möchte dich auf die Liste für die Evakuierung setzen . . .« In den Augen seiner Mutter sah er plötzlich das Wassertier, dieses ungeheuerliche Ding mit seinen riesigen Flossen.
    »Doch, Junge, du musst! Es ist besser, wenn du aus der Stadt wegkommst!«
    »Nein!«, rief Oleg. »Niemals!« Er wusste, dass die Lastwagen, die Lebensmittel über den See brachten, auf dem Rückweg Frauen und Kinder mitnahmen. Aber nicht einmal für das beste Essen wollte Oleg mit denLastern über den See fahren, in dem das Wassertier als Symbol seiner Angst schwamm. Schließlich war da der dunkle Fleck, wo sein Vater ertrunken war. Um nichts auf der Welt würde er über den riesigen Ladogasee fahren. Und außerdem dachte er gar nicht daran, seine Mutter im Stich zu lassen!
    »Der Krieg kann noch Jahre dauern«, sagte seine Mutter. Sie setzte sich ein wenig auf und sah Oleg fast flehend an. »Ich will, dass du hier weggehst. Du musst fahren!«
    »Und du?«
    »Ich komme schon zurecht.«
    »Wer soll denn dann Essen und Wasser für dich holen?«
    »Bis du abfährst, bin ich wieder gesund.«
    Ein Kampf mit Worten, der ganz überflüssig war. Denn was auch geschehen mochte, Oleg würde nicht gehen. Um diesem sinnlosen Gespräch ein Ende zu machen, beugte sich Oleg vor und küsste seine Mutter. Sie sahen sich gegenseitig ernst an, jeder mit den eigenen Gedanken beschäftigt. Oleg dachte: ›Wird sie sterben? Will sie mich hier weghaben, um in Ruhe sterben zu können? Will sie mir den Kummer ihres Sterbens ersparen?‹
    Die Mutter dachte: ›Lass ihn gehen! Gott, lass nicht zu, dass er in der Stadt bleibt! Lass ihm das Leben!‹ Oleg war alles, was sie noch besaß. Ihr fehlte die Kraft, für ihn am Leben zu bleiben.
    Oleg stand auf. »Ich hole Essen«, sagte er.
    »Zieh dich warm an!«, sagte seine Mutter noch einmal. Oleg band den Schal um, setzte die Mütze auf. Ernahm die Taschenlampe mit dem kleinen Dynamo zum Drücken darin vom Tisch und leuchtete in den Küchenschrank, um den Topf im Halbdunkel zu finden.
    »Kann ich noch irgendetwas für dich tun?«
    Seine Mutter schüttelte den Kopf.
    Oleg knöpfte den Mantel bis obenan zu. In der Hoffnung, dass seine Mutter es nicht sah, griff er sich die kleine Dienstpistole seines Vaters und schob sie schnell in die Tasche. Es war gut, die kleine Waffe in der Tasche zu spüren – als ein Stück von früher, etwas von seinem Vater, was ihm ein wenig Festigkeit verlieh.
    An der Tür winkte er seiner Mutter, so munter er konnte, noch einmal zu. Sie sollte nicht merken, dass er sich Sorgen machte, sich unsicher und unglücklich fühlte. Den Topf unter dem Arm, lief Oleg die ausgetretene Treppe hinunter.

2
    Auf der Straße schlugen ihm die Geräusche der Stadt entgegen, das Hacken der Trümmerräumer, die die festgefrorenen Steine aus dem Schnee schlagen mussten, der Marschtritt einer Kompanie Soldaten. Ein Lautsprecherwagen forderte Freiwillige auf, sich für diese oder jene Arbeit zu melden. In der Ferne heulteeine Sirene. Aber Oleg achtete nicht auf die Geräusche. Er dachte an seine Mutter, die vielleicht sterben musste wie die Mütter von Pjotr, Sergej, Iwan, Wladi und tausend andern Kindern. Er musste Essen beschaffen! Das war das Wichtigste. Oleg hoffte leidenschaftlich, dass man ihm in der Garküche diesmal einen ordentlichen Schlag geben würde. Das vorige Mal war es zu wenig gewesen, aber sein Protest hatte nichts geholfen.
    Eisiger Wind blies durch die Straße. Oleg setzte den Topf einen Augenblick ab und zog die Mütze tiefer über die Ohren. Auf der andern Seite zeichneten sich die Ruinen zerbombter Häuser spukhaft vor dem grauen Himmel ab. Oleg warf
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