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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Autoren: dtv
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einen Blick auf den alten Mann, der auf einem Schutthaufen lag. Eine dünne Schneeschicht hatte ihn während der Nacht zugedeckt. Er war tot. Oleg wollte nicht länger hinsehen. Gleich würde der große Wagen durch die Straßen kommen, um den alten Mann und Hunderte von andern Toten zu holen.
    Als die Angriffe auf Leningrad begannen und Oleg die ersten Toten auf der Straße liegen sah, hatte er verzweifelt geweint. Damals hatte ihn sein Vater um die Schultern gefasst, ihn ernst angesehen und gesagt: »Wir müssen das durchstehen, Oleg. Alle in Leningrad müssen das durchstehen. Der Mut, den wir zeigen, wird andern Mut geben. Denn nur mit Mut, immer wieder neuem Mut, können wir den Deutschen standhalten.« Dann hatte ihm sein Vater die Tränen abgewischt. Seitdem hatte Oleg nicht mehr geweint. Manchmal hatte er mit Verwirrung und Entsetzen dieGräuel in der Stadt wahrgenommen. Aber er hatte nicht mehr geweint – nicht einmal, als Zaretzki kam und berichtete, dass Olegs Vater als Held für Russland und die Freiheit gefallen sei. Darüber nicht zu weinen war sehr schwer gewesen.
    Oleg ging weiter. Er dachte an seine Mutter. Sie musste am Leben bleiben. Was war die Freiheit wert, wenn sie sterben sollte? Er musste versuchen, Essen zu beschaffen. Die wässrige Rübensuppe aus der Garküche genügte nicht – auch nicht, wenn er heimlich einen Teil der eigenen Ration an die Mutter abtrat. Wie oft hatte seine Mutter das nicht schon für ihn getan!
    »Oleg, wart mal!«
    Oleg drehte sich um. Nadja kam ihm nachgelaufen. Sie trug die Schuhe ihres Bruders, die ihr viel zu groß waren. Ihr Atem lag weiß auf dem Wollschal, den sie bis übers Kinn gezogen hatte.
    Oleg war froh, dass sie sich trafen. So brauchte er den weiten Weg zur Garküche nicht allein zu machen. Vielleicht konnte er mit Nadja über seine Mutter sprechen. Nadja war schließlich zwei Jahre älter als er. Oleg wollte sie ein wenig wegen der zu großen Schuhe necken, die wie Kähne an Nadjas dünnen Beinen saßen. Doch als er sie ansah, schluckte er die Worte rasch hinunter. Nadjas Gesicht war totenblass und bedrückt, als ob etwas Schreckliches geschehen wäre. Tränen liefen ihr über die Backen in den Wollschal. Weinte sie? Oder kamen die Tränen von dem schneidenden Wind?
    Oleg fragte nichts. Gemeinsam gingen sie über den Pfad zwischen den leicht beschneiten Trümmerhaufen.
    »Hoffentlich gibt’s heute was Ordentliches zu essen«, sagte Oleg. Er hatte etwas Freundliches sagen wollen, aber es war ihm nichts anderes eingefallen.
    »Es wird wohl wieder Rübensuppe sein«, erwiderte Nadja. »Vielleicht werden wir in ein paar Tagen, wenn der See zugefroren ist und die Laster wieder fahren, besseres Essen bekommen.«
    »Ein paar Tage dauern nicht lange.« Oleg blickte verstohlen unter seiner Mütze zu Nadja auf. Ihr Gesicht war noch genauso bedrückt wie zuvor. »Ein paar Tage sind rasch vorbei.«
    »Es muss nur dauernd frieren«, entgegnete Nadja. »Wenn es zwischendurch taut, können wir kaum etwas erwarten.«
    Sie bogen um die Ecke und liefen über den Platz, auf dem viele Denkmäler durch Haufen von Sandsäcken geschützt worden waren. Dann kamen sie durch eine schmale Straße, in der sämtliche Geschäfte mit Brettern vernagelt waren. Wieder schaute Oleg zu Nadja auf. Er hätte sie so gern mit einem kleinen Spaß aufgeheitert. Doch ihr starres, schmerzverzogenes Gesicht nahm ihm jeden Mut. Er kannte Nadja nicht anders als ausgelassen und fröhlich. Sie konnte sich die verrücktesten Dinge ausdenken und manchmal so übermütig und albern sein, dass sie selbst die größten Sauertöpfe zum Lachen brachte. Es musste also etwas Schlimmes geschehen sein, aber danach konnte er sie jetzt nicht fragen. Er spürte die Pistole in der Manteltasche. Dabei fielen ihm die Worte seines Vaters ein: »Der Mut, den wir zeigen, wird andern Mut geben.« Wie konnte er Nadja Mut machen?
    Aus einem Lautsprecher ertönte die Stimme eines Radioansagers, der die letzten Nachrichten von der Front verkündete. Auch in andern Gegenden Russlands wurde gegen die Deutschen gekämpft. Ob die Menschen dort auch nur Rübensuppe zu essen bekamen? Wehmütig dachte Oleg an die guten Dinge, die er früher, vor dem Krieg, hatte stehen lassen. Wenn er die doch jetzt wieder herzaubern könnte! Von solchem Essen würde seine Mutter bestimmt bald wieder gesund. Doch er wollte nicht mehr an Essen denken, dann spürte man den Hunger doppelt. Deshalb sagte er rasch: »Wenn ich erwachsen bin, werde ich
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