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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Autoren: dtv
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verrat’s keinem! Bitte, sag’s niemandem!«, bat sie schluchzend.
    »Was hast du denn gemacht?« Oleg sah sie entsetzt an. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Nadja jemals so etwas Gemeines tun würde.
    Nadja bückte sich und flüsterte: »Gestern Nachmittag ist Vater gestorben. Und als ich heute Morgen aufwachte, war Serjoscha tot . . .« Serjoscha war ihr Bruder.
    Plötzlich begriff Oleg alles. Nadja war allein mit ihrer Mutter am Leben, hatte aber vier Portionen geholt.
    »O Nadja!«, sagte er und merkte nicht einmal, dass er weinte, als sie nebeneinander weitergingen.
    In der Ferne klang das Dröhnen deutscher Geschütze.

3
    Eine Zeit lang gingen sie schweigend, jeder mit den eigenen Gedanken beschäftigt. Erst als sie an der Kirche vorüber waren, fing Nadja wieder an zu sprechen.
    »Ich habe es für meine Mutter getan, Oleg. Wirklich.« Das konnte Oleg verstehen, aber recht war es nicht. Es gab Hunderte von unterernährten Müttern, Hunderte von ausgehungerten Vätern, Hunderte von Kindern mit nagendem Hunger. In Leningrad erhielten alle die gleiche Ration. Was es an Lebensmitteln in der Stadt gab, wurde so gerecht wie möglich verteilt. Daran zweifelte niemand. Oleg schaute Nadja verstohlen an. Sie weinte nicht mehr, aber er merkte, dass ihr Gewissen sie quälte, weil sie sich einen Vorteil verschafft hatte.
    Er wusste nicht recht, was er sagen sollte. Ihr Vater war tot. Serjoscha war nicht mehr aufgewacht. Ob sie noch in dem Zimmer lagen, in dem auch Nadja und ihre Mutter schliefen? Oder hatte der große Wagen sie schon abgeholt – zugleich mit dem alten Mann, den Oleg auf dem Hinweg im Schnee hatte liegen sehen? »Ich geb dir nachher noch was von meiner Suppe«, sagte Nadja leise.
    Langsam gingen sie nebeneinander über den Platz mit den Denkmälern. Oleg nickte. Er schämte sich . . . Am Morgen, als er am Bett seiner Mutter gestanden hatte, hatte er gebetet, dass ein Wunder geschehen möge: das Wunder, dass er eine reichliche Portion nahrhaften Essens beschaffen konnte. War Nadjas Schwindel mitden Lebensmittelkarten das Wunder, auf das er gehofft hatte?
    Wenn man sich vorstellte, dass das jemand entdeckte! Ob Nadja dann auch erschossen würde? Oleg erschrak bei diesem Gedanken. Vielleicht wäre es besser, zurückzugehen und alles ehrlich zuzugeben.
    »Kommst du mal mit?«, fragte Nadja. Sie bog in den Park ein. An einem stillen Fleck zwischen den Sträuchern blieb sie stehen.
    »Mach den Deckel auf!«
    Zögernd nahm Oleg den Deckel vom Topf. Ohne etwas zu verschütten, goss Nadja noch einen Teil von ihrer Suppe hinein. Oleg protestierte nicht. Jetzt war er mitschuldig, das verstand er genau. Aber er tat es für seine Mutter.
    »Wenn du’s nur keinem sagst!«, beschwor ihn Nadja noch einmal.
    »Nein, bestimmt nicht«, flüsterte Oleg.
    Nadja lächelte beruhigt. Ihr Gesicht wirkte entspannter, als sie durch den Park zum Platz zurückgingen. »Haltet eure Töpfe nur gut fest!«, rief einer der Soldaten, der an einem Flakgeschütz Posten stand. Seine Kameraden schlugen die Arme umeinander, um warm zu werden.
    Oleg nickte, mehr für sich selbst als für die Soldaten. Natürlich würde er seinen Topf festhalten, wenn er auch auf einen Teil der Suppe kein Recht hatte. Ein angenehmes Gefühl war das nicht. Aber nachher konnte er seiner Mutter einen vollen Teller geben. Oder einen fast vollen. Und es war heute eine gute Suppe!
    Er lächelte Nadja zu, die natürlich Serjoschas und ihres Vaters wegen traurig war. Im Grunde war es ganz gut, dass sie die Schuld für die beiden zusätzlichen Rationen nicht allein zu tragen brauchte.
    Sie kamen an den Ausgang des Parks. Dort mussten sie eine Weile warten. Eine Kolonne Lastwagen voller Soldaten fuhr schnell vorbei. Die Soldaten standen dicht gedrängt auf der Ladefläche. Sie hatten die Gewehre umgehängt. Lachend winkten sie Oleg und Nadja zu. Oleg tat es leid, dass er nicht auch winken konnte, weil er den Topf mit beiden Händen festhalten musste. Ob sie an die Front fuhren, um gegen die Deutschen zu kämpfen? Später würde er auch dabei sein. Später, wenn er alt genug war, würde er ihnen helfen, Leningrad zu befreien.
    Plötzlich heulte dicht hinter ihnen eine Sirene. Oleg fuhr bei dem drohenden Lärm so heftig zusammen, dass er mit seinem Topf an Nadja stieß. Ein Schwapp Suppe klatschte unter dem Deckel heraus auf den Boden. Bekümmert schaute Oleg auf den Fleck von roten Rüben im weißen Schnee.
    In allen Teilen der Stadt gaben jetzt die Sirenen
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