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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Autoren: dtv
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Soldat.«
    Ein kurzes Lächeln huschte über Nadjas Gesicht. »Wenn du erwachsen bist, ist der Krieg vorbei«, entgegnete sie.
    »Hoffentlich nicht!«, murmelte Oleg. Er wollte gegen die Deutschen kämpfen, die seinen Vater umgebracht hatten, gegen die Deutschen, die schuld daran waren, dass in Leningrad Tausende starben, dass schöne Häuser in Schutthaufen verwandelt wurden, dass alle hungern mussten!
    »Ich will Ärztin werden«, sagte Nadja.
    »Nicht Schauspielerin?« Das hatte sie sonst immer gewollt.
    Nadja schüttelte den Kopf, erklärte jedoch nicht, weshalb sie ihre Absicht geändert hatte.
    Sie gingen an der großen Kirche vorbei. Zwei alte Frauen schlugen das Kreuz und stützten sich gegenseitig die Stufen zum Eingang hinauf. Ob sie Gott bitten wollten, Leningrad zu beschützen? Ob sie um seine Befreiung beteten?
    »Glaubst du, dass es einen Gott gibt?«
    »Nein!«, erwiderte Nadja. Es klang so abweisend, dass Oleg nicht weiterzufragen wagte. Seine Mutter sagte, es gäbe einen Gott. Aber weshalb kam er nicht aus dem Himmel herunter, um all dem Elend ein Ende zu machen? Sie gelangten zur Garküche. Zum Glück war die Schlange wartender Frauen und Kinder nicht allzu lang. Innerhalb einer Stunde würden sie bestimmt an der Reihe sein.
    Langsam schoben sie sich nach vorn. Nadja wirkte plötzlich sehr nervös. Immer wieder sah sie sich ängstlich um, als ob eine unbestimmte Gefahr sie in der Schlange bedrohe.
    »Was hast du denn?«, fragte Oleg.
    »Pst!«, zischte Nadja scharf. Sie hielt die Lebensmittelkarten krampfhaft in der Hand. Sie war nun an der Reihe, blieb aber stocksteif stehen. Trotz der Kälte war ihr Gesicht totenblass.
    »Vorwärts! Weiterrücken!«, rief der Mann, der die Suppe ausschöpfte. Nadja zögerte immer noch. Verwirrt sah sie die Männer von der Küche an, gab aber die Lebensmittelkarten nicht ab. Oleg sah, dass ihre Hand zitterte.
    »Na, wird’s bald?«
    »Du bist dran«, flüsterte Oleg Nadja zu und stieß sie leicht in die Seite. Endlich tat sie einen Schritt vorwärts und reichte die Karten einem Mann, der mit rot gefrorener Hand einen Stempel daraufdrückte.
    »Vier Portionen!«, rief der Mann.
    Interessiert sah Oleg zu, wie Nadjas Topf vollgeschöpftwurde. Sie bekam vier randvolle Kellen. Und es war gute Suppe, das sah man sofort. Fleisch schwamm darin und kleine Kartoffelstückchen. Freute sich Nadja denn nicht über die große Portion? Oleg merkte nichts von Freude. Mit niedergeschlagenen Augen schob sie sich hastig zur Seite, den Topf fest an sich gedrückt, als fürchte sie, dass ihn ihr jemand wegnehmen würde.
    Nun war Oleg an der Reihe. Gespannt verfolgte er die große Kelle, die im Kessel verschwand. Herbe Enttäuschung durchfuhr ihn, als die Kelle auftauchte. Sie war nicht ganz voll. Oleg sah den Mann flehend an, wagte jedoch nichts zu sagen. Das vorige Mal hatte es schließlich auch nichts geholfen. Wenn wenigstens die zweite Kelle ordentlich voll würde . . . Doch auch die war nicht bis zum Rand gefüllt. Tränen schossen ihm in die Augen.
    »Meine Mutter ist krank«, stammelte er.
    »Der Nächste!«, rief der Mann mit dem Stempel, während eine Frau Oleg sanft zur Seite schob.
    Langsam ging Oleg auf Nadja zu, die auf ihn wartete. »Hast du viel gekriegt?«, fragte sie. Oleg schüttelte den Kopf. Er konnte ihr noch nicht antworten, weil es ihn im Hals würgte. Erst als er einmal richtig geschluckt hatte, sah er Nadja an und war überrascht: Sie lachte ihm zu. Zum ersten Mal hatte sie wieder ein fröhliches Gesicht.
    »Komm mal her mit deinem Topf!«, sagte sie leise. Sie nahm den Deckel ab und goss vorsichtig eine Menge Suppe aus ihrem Topf in den von Oleg.
    »Aber Nadja!«, sagte Oleg verblüfft. »Und wo bleibt ihr?«
    »Psst!«, machte Nadja. Sie blickte sich um, ob sie auch niemand hören konnte. »Du darfst das keinem erzählen«, sagte sie leise. »Du darfst keinem erzählen, dass ich dir was abgegeben habe.«
    »Wieso denn nicht?«, fragte Oleg, der sie nicht verstand.
    »Erinnerst du dich an Stipolew?«, flüsterte Nadja.
    Oleg nickte. Stipolew hatte in ihrer Straße gewohnt. Er hatte Lebensmittelkarten gefälscht. In der ausgehungerten Stadt waren solche Fälschungen das ärgste Verbrechen, das jemand begehen konnte. Soldaten waren gekommen, hatten Stipolew aus seiner Wohnung geholt und ohne Gnade erschossen.
    »Ich habe eben so was Ähnliches gemacht«, flüsterte Nadja. Sie fing an zu weinen. Die Tränen flossen ihr über die blassen Wangen. »Oleg,
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