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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Autoren: dtv
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Fliegeralarm. »Komm rasch!«, rief Nadja. An einer Ecke des Platzes stand ein Schild, das die Richtung zum nächsten Luftschutzbunker anzeigte. Von allen Seiten rannten die Menschen über den Platz. Die Soldaten brachten in aller Eile ihr Flakgeschütz in Stellung. Nadja fing an zu laufen. Oleg lief hinter ihr her. Doch bei jedem Schritt schwappte die Suppe an den Deckel. Oleg verschüttete jedes Mal eine Winzigkeit . . .
    »Nicht so schnell!«, rief er Nadja nach.
    Angst hatte Oleg nicht. In Leningrad hatten die Sirenen schon Hunderte von Malen geheult. Er fürchtete nur, dass er zu viel von seiner Suppe verschüttete.
    »Du hast recht«, stimmte Nadja ihm zu und wurde ein wenig langsamer, weil sie ebenso wie Oleg darauf bedacht war, nichts zu verschütten.
    Plötzlich passierten hundert Dinge auf einmal. Erst hörte Oleg einen hohen, kreischenden Laut in der Luft, der auf ihn zukam. Aus den Augenwinkeln sah er ein deutsches Flugzeug aus den Wolken kommen. Eine alte Frau auf der andern Seite des Platzes strauchelte. Eine Mutter mit zwei kleinen Kindern suchte ratlos einen sicheren Fleck. »Schnell!«, rief Nadja. »Schnell!« Ihre Stimme überschlug sich. Die beiden rannten zum Park zurück. Maschinengewehre ratterten. Überall rannten Menschen, um sich in Deckung zu bringen. Manche warfen sich flach auf die Straße.
    »Schneller, Oleg!« Nadja keuchte. Aber Oleg dachte an seine Suppe. Krampfhaft drückte er mit den Daumen den Deckel fest auf den Topf, während er hinter Nadja weiterrannte.
    Alles übertönend dröhnten die Motoren. Das Flugzeug war jetzt ganz nahe. Nadja bog nach links, um Deckung hinter der kleinen Parkmauer zu suchen. Dann schallte ohrenbetäubender Donner. Oleg fühlte sich hochgerissen. Es war, als ob ihn ein heftiger Windstoß vom Bürgersteig höbe.
    ›Meine Suppe!‹, dachte er. Dann schlug er auf den Boden. Einen Augenblick schien die Welt stillzustehen.Es war, als ob er nie wieder atmen könnte. Erstarrt vor Schreck lag er mit geschlossenen Augen im Schnee. Langsam verhallte das Dröhnen des Flugzeugs zur Newa hinüber. Wie im Traum hörte Oleg schnelle Schritte. Dann hallten Befehle und auf dem Platz schrie jemand um Hilfe.
    »Banditen, Schurken, Mörder!« Ein Mann schrie seine Ohnmacht zum Himmel hinauf . . . Dazwischen hörte man das Schluchzen einer Frau und das Stöhnen von Verwundeten. Die laufenden Schritte kamen näher. Oleg spürte, dass sich jemand über ihn beugte. »Junge, he, Junge!«, sagte eine Stimme.
    Oleg öffnete die Augen und erkannte einen der Soldaten vom Flakgeschütz.
    »Hast du Schmerzen? Bist du verletzt?«
    Noch halb betäubt von der Detonation schüttelte Oleg den Kopf. Dann sah er Nadja, die ein paar Meter weiter wieder auf die Beine kam. Sie war ganz schwarz im Gesicht, weil sie sich platt auf den Boden gedrückt hatte. An einem Knie war der Strumpf zerrissen. Sie klopfte sich Schnee und Erde vom Mantel. Es sah aus, als ob sie schlafwandele.
    »Oleg, o Oleg!«, rief sie. Sie wirkte auf einmal klein und hilflos, wie sie da stand. Verstört starrte sie in den Schnee zu ihren Füßen.
    Erst da ging Oleg auf, worauf Nadja guckte. Im Schnee lag sein Topf und der größte Teil der Suppe war ausgelaufen. Kleine Rübenstückchen, Fleischfasern und Kartoffelwürfel lagen im Schnee.
    Entsetzt sah Oleg den Soldaten an. Dann kroch er zu seinem Topf. Er zog den Handschuh aus und versuchtemit Daumen und Zeigefinger die winzigen Fasern Essen in den Topf zurückzutun.
    »Lass doch, Junge«, sagte der Soldat leise. Aber Oleg wandte sich nicht um, weil er nicht wollte, dass der Soldat seine Tränen sah.
    Nadja hockte sich neben ihn. Ohne etwas zu sagen, schlang sie einen Arm um ihn.
    Verwirrt schaute der Soldat auf die beiden Kinder nieder. Er sah die Suppe, die in den Schnee geflossen war. Für die Kinder war das eine Tragödie, das war ihm klar. Aber als Soldat durfte er sich nicht aus dem Gleichgewicht bringen lassen. Es geschahen schlimmere Dinge.
    »Kopf hoch, Kinder!«, ermutigte er sie. »Das ist nicht das Schlimmste, was heute geschehen ist.« Dann ging er mit großen Schritten zu dem Platz zurück, wo Verwundete und Sterbende um Hilfe riefen.
    »Komm!«, sagte Nadja. Sie hob die Töpfe auf, half Oleg auf die Beine und zog ihn mit in den Park – weg vom Platz. Sie wollte auf einem Umweg nach Hause. Es war schon schlimm genug, dass sie wussten, was auf dem Platz geschehen war, es war nicht nötig, es auch noch zu sehen! Während Oleg und Nadja noch halb betäubt
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