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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Autoren: dtv
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Stoff zu tausend Albträumen. Die Deutschen hielten die Stadt eingeschlossen. Durch Aushungern und Bombardieren – täglich fielen im Durchschnitt dreihundert Bomben und Granaten auf die Stadt – hofften sie, die Verteidiger zur Übergabe zu zwingen. Oleg hätte von den Tausenden von Menschen träumen können, die vor Hunger und Erschöpfung auf der Straße starben; von Soldaten, die schwer verwundet aus den Stellungen rund um die Stadt zurückkamen; von Häuserblocks, die brennend zusammenstürzten; von Frauen, die weinend zwischen den Trümmerhaufen nach ihren Kindern suchten.
    Leningrad war eine sterbende Stadt. Die Wasserversorgung funktionierte nicht mehr, die Klosetts waren eingefroren. Die Menschen verrichteten ihre Bedürfnisse in der eisigen Kälte auf der Straße. Menschliche Scham war in der Gewalt des Krieges längst verloren gegangen.
    Oleg hätte auch von dem alles beherrschenden Hunger träumen können; von Frauen und Kindern, die bei zwanzig Grad Kälte stundenlang Schlange standen, um einen Schlag wässrige Suppe oder ein Stückchen Brot zu erhalten. In Hunderten von Häusern lagen die Sterbenden – und Toten –, noch von niemand entdeckt. All diese grimmigen Zustände gehörten jetzt zur Wirklichkeit des täglichen Lebens. Sie waren zu einem greifbaren Teil des Krieges geworden, an denman sich schließlich gewöhnte, weil man einfach damit leben musste.
    Weit stärker als die Wirklichkeit seiner Umgebung hatten die Lebensmitteltransporte Olegs Fantasie beschäftigt – vor allem, weil sein Vater mit diesen Konvois gefahren war. Wenn der ausgedehnte Ladogasee zufror, konnten die Lastwagen mit unentbehrlichen Medikamenten, Lebensmitteln und Munition die deutschen Linien umgehen, um so die unvorstellbare Not in Leningrad wenigstens zu einem Teil zu lindern. In Gedanken hatte Oleg schon Dutzende von Malen seinen Vater begleitet. Wie mochte es den Männern in den Kabinen zumute sein, wenn die schweren Laster im Zickzack über das längst nicht überall sichere Eis dahinkrochen? Ob sie die Angst lähmte? Oder war ihr Mut stärker? Am schlimmsten war es immer zu Beginn des Winters, wenn das Eis noch nicht fest genug war, und im Frühjahr, wenn es zu tauen begann und die Wagen bis über die Räder im Wasser fuhren. Dann war die Spannung wegen Vaters Rückkehr fast unerträglich gewesen. Nach einer dieser Fahrten war nahezu die Hälfte des Konvois nicht zurückgekehrt. Dennoch waren die andern am nächsten Tag aufs Neue gefahren. Jeder Wagen, der das Ziel erreichte, rettete Menschenleben. Jeder Wagen, der bei den grimmigen Todesfahrten im Ladogasee versank, bedeutete den fast sicheren Tod für eine Anzahl von Männern, Frauen und Kindern in der Stadt.
    Deshalb träumte Oleg von den Transporten. Dass das Wassertier unter dem Eis schwamm und sein Vater unvermeidlich auf diesen dunklen Fleck zufuhr,machte den Traum zu einem Albtraum. Jedes Mal, wenn der Wagen kippte und quälend langsam in der Tiefe verschwand, wurde Oleg wach: nass vom Angstschweiß und für einen Augenblick völlig verwirrt durch diesen schrecklichen Traum. Das Furchtbarste daran war jedoch, dass sich das alles wirklich so zugetragen hatte.
    Das Bett seiner Mutter knarrte.
    »Oleg, bist du wach?«
    Oleg öffnete die Augen. Im Dämmerlicht sah er die vertraute Umgebung: die Bretter, die sein Vater noch vor die Fenster genagelt hatte, als bei einem Luftangriff alle Scheiben gesprungen waren, den Herd in der Ecke, für den es keine Kohlen gab, das Bett seiner Mutter, die schief hängende Lampe an der gerissenen Decke, den Riss in der Außenwand.
    Oleg schlug die Bettdecke zurück. Es war eiskalt im Zimmer. Hastig fuhr er in die Schuhe, zog Jacke und Mantel an. Dann lief er zum Bett seiner Mutter.
    »Du musst zur Garküche. Geh lieber frühzeitig!«
    Oleg nickte. In der Ferne klang das stetige Dröhnen der Geschütze. Oleg sah seine Mutter an. Er wollte nicht fragen, wie sie sich fühle. Sie würde doch nur antworten, dass es besser gehe und dass sie gut geschlafen habe. Als ob er noch ein Kind wäre, das es nicht besser wusste. In den fiebrigen Augen seiner Mutter las Oleg Sorge und Angst. Doch sie lächelte ihm zu, weil sie sich nichts anmerken lassen wollte. Oleg erwiderte das Lächeln. Er wollte tapfer wirken, weil er sich nicht mehr als Kind fühlte. Wer zwölfJahre alt war und schon fast zwei Jahre deutsche Belagerung durchgestanden hatte, der war erwachsen!
    »Zieh dich warm an!«
    Oleg nickte wieder. Er schaute auf das hohle Gesicht
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