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Ohne ein Wort

Ohne ein Wort

Titel: Ohne ein Wort
Autoren: Linwood Barclay
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dass du sicher zur Schule kommst, das ist alles.«
    Grace seufzte und ließ den Kopf hängen; eine braune Haarlocke fiel ihr in die Augen. Mit dem Löffel rührte sie in der Milch mit den Cheerios. »Trotzdem muss sie mich nicht zur Schule bringen. Seit dem Kindergarten wird keiner mehr von seiner Mom gebracht.«
    Wir diskutierten das Thema nicht zum ersten Mal, und ich hatte auch mehrmals versucht, Cynthia so vorsichtig wie möglich zu vermitteln, dass es vielleicht an der Zeit war, Grace ohne Aufsicht zur Schule gehen zu lassen; immerhin war sie inzwischen schon in der dritten Klasse. Außerdem würde sie ja nicht wirklich allein gehen; es gab jede Menge anderer Kinder, die denselben Schulweg hatten.
    »Warum kannst du mich nicht bringen?«, fragte Grace, und ein leiser Hoffnungsschimmer erschien in ihren Augen.
    Wenn ich Grace zur Schule brachte – was allerdingsnur selten vorkam –, blieb ich stets weit hinter ihr. Passanten wären nie auf die Idee gekommen, dass ich ein Auge auf meine Tochter hatte. Cynthia verrieten wir davon kein Sterbenswörtchen. Meine Frau ging felsenfest davon aus, dass ich bis zur Fairmont Public School keinen Millimeter von Grace’ Seite wich und am Schultor stehen blieb, bis sie im Gebäude war.
    »Das geht nicht«, sagte ich. »Ich muss um acht in meiner Schule sein. Und bei dir fängt der Unterricht eine ganze Stunde später an. Mom muss erst um zehn zur Arbeit. Aber wenn ich mal wieder die erste Stunde freihabe, bringe ich dich hin, okay?«
    Cynthia hatte nämlich ihre Arbeitsstunden – sie arbeitete in der Boutique ihrer alten Freundin Pamela Forster – extra so gelegt, dass sie Grace wohlbehütet zur Schule bringen konnte. Außerdem arbeitete sie nur halbtags, was bedeutete, dass sie Grace auch wieder abholte. Immerhin war sie Grace so weit entgegengekommen, dass sie nicht mehr vor dem Eingang auf sie wartete, sondern auf der Straße. Von dort hatte sie die beste Sicht auf den Schulhof und konnte unsere Tochter leicht erspähen, wenn die Kids aus dem Gebäude strömten. Sie hatte Grace wiederholt gebeten, ihr doch zu winken, damit sie sie gleich sah, doch Grace weigerte sich standhaft.
    Schwierig wurde es, als eine Lehrerin die Klasse einmal bat, nach dem Läuten der Schulglocke noch zu bleiben. Vielleicht handelte es sich um kollektives Nachsitzen, vielleicht hatten sich die Kinder die Hausaufgaben noch nicht aufgeschrieben. Grace geriet in Panik, und zwar nicht, weil ihre Mutter sich bestimmt Sorgen machte,sondern weil sie womöglich jede Sekunde ins Klassenzimmer stürmen würde.
    »Außerdem ist mein Teleskop kaputt«, sagte Grace.
    »Was meinst du mit kaputt?«
    »Die Dinger, mit denen es am Ständer festgemacht ist, sind lose. Ich habe sie wieder festgemacht, aber ich weiß nicht, wie lange es hält.«
    »Ich sehe es mir nachher an.«
    »Ich muss doch nach Killerasteroiden Ausschau halten«, erklärte Grace. »Und wenn mein Teleskop kaputt ist, kann ich sie nicht sehen.«
    »Okay. Ich kümmere mich drum.«
    »Wenn ein Asteroid auf der Erde einschlagen würde, dann wäre es so, als würden eine Million Atombomben gleichzeitig explodieren, wusstest du das?«
    »So viele wohl nicht«, sagte ich. »Aber schlimm wäre es auf jeden Fall.«
    »Manchmal träume ich, dass ein Asteroid auf die Erde zurast. Ich will nur abends nachgucken, damit ich weiß, dass nichts passiert.«
    Ich nickte. Es war nicht gerade das teuerste Teleskop der Welt und daher wahrscheinlich auch so schnell kaputtgegangen. Klar, man will sein Geld nicht zum Fenster hinauswerfen, da man nie weiß, wie lange sich ein Kind für etwas Bestimmtes interessiert, aber das war gar nicht der springende Punkt; wir hatten einfach nicht genug Geld, um verschwenderisch damit umzugehen.
    »Und was ist jetzt mit Mom?«, fragte Grace.
    »Was soll denn sein?«
    »Muss sie unbedingt mit zur Schule gehen?«
    »Ich rede mit ihr«, sagte ich.
    »Mit wem willst du reden?«, fragte Cynthia, die gerade die Küche betrat.
    Sie sah gut aus. Wunderschön, um genau zu sein. Sie war eine auffallend attraktive Frau. Ich konnte mich schlicht nicht sattsehen an ihren grünen Augen, den hohen Wangenknochen, dem flammend roten Haar, auch wenn sie es nicht mehr so lang trug wie damals, als ich sie kennengelernt hatte. Andere Menschen dachten wahrscheinlich, ihre Topfigur würde sie regelmäßigem Training im Fitnessstudio verdanken, aber mir kam es eher so vor, als würde sie ihre Linie allein durch ihre Ängste halten. Es war, als
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