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Ohne ein Wort

Ohne ein Wort

Titel: Ohne ein Wort
Autoren: Linwood Barclay
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MAI 1982
    Als Cynthia erwachte, war es so still im Haus wie sonst nur samstags.
    Ach, wenn doch nur Samstag gewesen wäre.
    Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich sehnlicher gewünscht, es sei ein schulfreier Samstag. Ihr war immer noch speiübel, ihr Kopf fühlte sich an wie Beton, und es kostete sie einige Mühe, ihn überhaupt vom Kissen zu heben.
    Igitt, was war denn bitte das da im Papierkorb? Sie konnte sich nicht mal daran erinnern, sich letzte Nacht übergeben zu haben, aber die verräterischen Spuren ließen keinen anderen Schluss zu.
    Die Sauerei musste sie unbedingt wegmachen, ehe ihre Eltern etwas bemerkten. Cynthia stieg aus dem Bett, schwankte einen Augenblick, nahm den kleinen Plastikeimer und öffnete die Zimmertür einen Spalt. Auf dem Flur war niemand zu sehen. Sie schlich am Zimmer ihres Bruders und dem Elternschlafzimmer vorbei – beide Türen standen offen –, schlüpfte ins Bad und schloss die Tür hinter sich.
    Sie leerte den Inhalt in die Toilette, wusch den Papierkorb in der Badewanne aus und musterte sich müde im Spiegel. So also sah eine Vierzehnjährige mit Kater aus. Kein schöner Anblick. Sie erinnerte sich kaum, wasVince ihr alles zu trinken angeboten hatte, lauter Zeug aus der Hausbar seiner Eltern. Zwei Dosen Budweiser, Wodka, Gin und eine bereits angebrochene Flasche Rotwein. Sie hatte versprochen, eine Flasche Rum von zu Hause mitzubringen, hatte sich am Ende aber nicht getraut.
    Irgendetwas war merkwürdig. Sie kam nur nicht drauf, was es war.
    Cynthia spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und trocknete sich ab. Sie holte tief Luft und nahm all ihren Mut zusammen, für den Fall, dass ihre Mutter bereits auf der anderen Seite der Badezimmertür auf sie wartete.
    Tat sie aber nicht.
    Cynthia eilte zurück in ihr Zimmer, dessen Wände zum Unmut ihrer Eltern mit Postern von KISS und anderen Seelenzerstörern gepflastert waren; unter ihren nackten Füßen spürte sie den dicken Teppich. Sie warf einen Blick in Todds Zimmer, lugte ins Schlafzimmer ihrer Eltern. Die Betten waren gemacht. Normalerweise kam ihre Mutter erst später am Morgen dazu, sie aufzuschütteln. Todd machte sein Bett sowieso nie, und Mom ließ es ihm auch noch durchgehen, aber heute sahen die Betten aus, als hätte überhaupt niemand in ihnen geschlafen.
    Cynthia spürte leise Panik in sich aufkommen. War es schon so spät? Wie spät war es überhaupt?
    Der Wecker auf Todds Nachttisch zeigte gerade mal zehn vor acht an. Gewöhnlich verließ sie das Haus erst zwanzig Minuten später, um zur Schule zu gehen.
    Im Haus war es totenstill.
    Normalerweise konnte sie ihre Eltern um diese Uhrzeit unten in der Küche hören. Selbst wenn sie nicht miteinander sprachen, was öfter vorkam, hörte sie, wie der Kühlschrank geöffnet und wieder geschlossen wurde, wie der Pfannenheber in der Pfanne kratzte oder Geschirr in die Spüle gestellt wurde, während jemand – üblicherweise ihr Vater – die Seiten der Morgenzeitung umblätterte und den einen oder anderen verwunderten Kommentar vor sich hin murmelte.
    Seltsam.
    Ihr Blick streifte die Matheaufgaben, die auf dem Schreibtisch lagen. Sie hatte nur die Hälfte der Aufgaben gemacht, bevor sie gestern Abend losgezogen war, und sich gedacht, den Rest könne sie ja auch morgen erledigen, wenn sie früh genug aufstand.
    Falsch gedacht.
    Sonst war Todd um diese Uhrzeit nicht zu überhören. Rein und raus aus dem Badezimmer, während Led Zeppelin aus seinen Lautsprechern dröhnte; zwischendurch rief er lautstark nach einer frischen Hose und rülpste vor Cynthias Tür herum.
    Er hatte kein Wort davon gesagt, dass er früher zur Schule musste, aber das hätte sie auch eher gewundert. Sie gingen nur selten zusammen zur Schule. In seinen Augen war sie eine uncoole Neuntklässlerin, auch wenn sie ihr Bestes tat, um ihr Image aufzupolieren. Er würde ganz schön staunen, wenn sie ihm erzählte, dass sie zum ersten Mal so richtig sturzbesoffen gewesen war. Aber vielleicht hielt sie doch besser die Klappe, sonst verpetzte er sie noch, wenn er das nächste Mal etwas ausgefressen hatte.
    Okay. Möglich, dass Todd früher zur Schule gegangen war – aber wo waren ihre Eltern?
    Vielleicht war ihr Vater am frühen Morgen zu einer Geschäftsreise aufgebrochen. Er war immer irgendwohin unterwegs, da verlor man völlig den Überblick. Am Abend zuvor war er allerdings leider zu Hause gewesen.
    Und ihre Mutter? Hmm, vermutlich hatte sie Todd zur Schule gefahren.
    Sie zog sich an. Jeans,
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