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Ohne ein Wort

Ohne ein Wort

Titel: Ohne ein Wort
Autoren: Linwood Barclay
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Stühle, spähte hinter den Herd, während ihr Tränen über die Wangen liefen.
    »Was ist denn los, Kleine?«, fragte der Detective. »Was machst du da?«
    »Wo ist bloß der Zettel?«, fragte Cynthia mit flehendem Blick. »Hier muss irgendwo ein Zettel sein! Meine Mom geht nie aus dem Haus, ohne eine Nachricht zu hinterlassen!«

EINS
    Cynthia stand vor dem einstöckigen Haus an der Hickory Lane. Aber sie sah das Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, keineswegs zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Jahren wieder. Sie lebte immer noch in Milford und hatte mir das Haus gezeigt, bevor wir heirateten. »Das ist es«, hatte sie im Vorüberfahren gesagt, und schon waren wir wieder daran vorbei gewesen. Sie hielt nie an. Und falls doch, stieg sie nicht aus. Jedenfalls hatte sie seit einer Ewigkeit nicht mehr unmittelbar vor dem Haus gestanden.
    Und genauso lange war es her, dass sie das Haus zuletzt betreten hatte.
    Wie angewurzelt stand sie auf dem Bürgersteig; es sah fast so aus, als könne sie keinen Schritt weitergehen. Am liebsten wäre ich zu ihr geeilt, um sie zur Tür zu begleiten. Die Einfahrt war gerade mal zehn Meter lang, erstreckte sich aber ein Vierteljahrhundert in die Vergangenheit. Für sie war es wohl ein bisschen so, als würde sie durch das falsche Ende eines Fernglases sehen. So, als könnte sie den ganzen Tag gehen und gehen, ohne jemals anzukommen.
    Trotzdem blieb ich auf der anderen Straßenseite stehen, behielt sie im Auge, ihren Rücken, die kurzen roten Haare. Ich hatte meine Anweisungen.
    Cynthia stand da, als würde sie auf die Erlaubnis warten, endlich die Einfahrt hinaufzuschreiten. Dann ertönte eine Stimme.
    »Okay, Mrs Archer? Gehen Sie los. Nicht zu schnell. Zögern Sie ruhig ein bisschen, so als würden Sie das Haus zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Jahren betreten.«
    Über die Schulter sah Cynthia eine junge Frau in Jeans und Turnschuhen an; die Frau trug eine Baseballkappe, aus der hinten ihr Pferdeschwanz baumelte. Sie war eine der drei Aufnahmeleiterinnen.
    »So ist es ja auch«, sagte Cynthia.
    »Sehen Sie nicht mich an«, sagte die Frau mit dem Pferdeschwanz. »Richten Sie den Blick aufs Haus, und wenn Sie losgehen, denken Sie einfach daran, was damals passiert ist, okay?«
    Cynthia sah mich an und verdrehte die Augen. Ich lächelte resigniert, so nach dem Motto »Tja, da musst du jetzt durch«.
    Langsam schritt sie die Einfahrt hinauf. Wie hätte sie sich dem Haus wohl ohne laufende Kamera genähert? Ebenso vorsichtig, ebenso stockend? Wahrscheinlich. Aber jetzt wirkte es gespielt, irgendwie gezwungen.
    Doch als sie die Treppenstufen zur Haustür erklomm und die Hand ausstreckte, bemerkte ich, dass sie zitterte. Ich bezweifelte jedoch, dass die Kamera imstande war, echte Gefühle einzufangen.
    Ihre Hand legte sich um den Türknauf. Sie drehte ihn und wollte gerade die Tür öffnen, als die Frau mit dem Pferdeschwanz rief: »Stopp! Wunderbar! Bleiben Siegenau so stehen!« Dann richtete sie das Wort an den Kameramann: »Und jetzt das Ganze noch mal von innen, damit wir sehen, wie sie hereinkommt.«
    »Das kann ja wohl nicht wahr sein!«, sagte ich, laut genug, dass das umstehende Fernsehteam es mitbekam – etwa ein halbes Dutzend Leute, darunter Paula Malloy, die Chefreporterin des Senders, wie stets ganz Strahlelächeln und Donna-Karan-Kostüm.
    Paula trat zu mir.
    »Mr Archer.« Sie berührte mich am Arm, noch so eins ihrer Markenzeichen. »Ist alles in Ordnung?«
    »Wie können Sie ihr das antun?«, sagte ich. »Meine Frau will zum ersten Mal, seit ihre Familie spurlos verschwunden ist, ihr Elternhaus betreten, und Sie rufen einfach ›Schnitt‹?«
    »Terry«, sagte sie und rückte mir noch ein bisschen näher auf den Leib. »Darf ich Sie Terry nennen?« Ich äußerte mich nicht dazu.
    »Terry, es tut mir wirklich leid, aber wir müssen die Kamera neu positionieren. Wir wollen Cynthias Gesicht sehen, wenn sie zum ersten Mal nach all den Jahren das Haus betritt. Wir wollen größtmögliche Authentizität. Ehrlichkeit. Und darum geht es Ihnen beiden doch auch, nicht wahr?«
    Ein toller Witz. Die Chefreporterin von Deadline , die sonst hinter Prominenten und Popstars herjagte, die sich betrunken ans Steuer gesetzt oder ihr Baby nicht im Kindersitz angeschnallt hatten, spielte hier kalt lächelnd die Aufrichtigkeitskarte aus.
    »Ja, natürlich«, sagte ich müde, während ich daran dachte, dass es hier um weit mehr ging, darum, dassein TV -Beitrag nach all den Jahren
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