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Ohne ein Wort

Ohne ein Wort

Titel: Ohne ein Wort
Autoren: Linwood Barclay
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Ich weiß nicht, wer von uns am nervösesten war. Zwei Tage zuvor hatten wir einlanges Gespräch zu dritt geführt. Wir stimmten überein, dass wir nach vorne blicken, unser Leben neu in die Hand nehmen mussten.
    Grace’ wichtigstes Anliegen war, endlich allein zur Schule gehen zu dürfen. Was uns, ehrlich gesagt, ziemlich überraschte. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, hätte man eigentlich vermuten müssen, dass sie sich geradezu darum reißen würde, zur Schule gebracht zu werden. Dass sie von uns unabhängig sein wollte, betrachteten Cynthia und ich als gutes Zeichen.
    Wir umarmten sie und sahen ihr aus dem Fenster hinterher, bis sie um die Straßenecke verschwunden war.
    Es war, als würden wir beide den Atem anhalten, als wir uns wie gebannt vor das Telefon in die Küche setzten.
    Rolly lag mit einer schweren Gehirnerschütterung im Krankenhaus, wo ihn bereits Rona Wedmore mit einem Haftbefehl besucht hatte; er war dringend tatverdächtig, Tess Berman und Denton Abagnall ermordet zu haben. Der Fall Connie Gormley wurde ebenfalls neu aufgerollt, doch hier lag die Sache komplizierter. Der einzige Zeuge, Clayton Sloan, war tot, und es gab keine konkreten Beweise; der Wagen, mit dem Rolly und Clayton den »Unfall« getürkt hatten, rostete wahrscheinlich auf irgendeinem Autofriedhof vor sich hin.
    Rollys Frau Millicent schrie uns am Telefon an, wir seien dreckige Lügner – ihr Mann habe niemandem etwas getan, sie seien quasi schon auf dem Sprung nach Florida gewesen, und dass sie sich einen Anwalt nehmen und uns mit Klagen überhäufen würde.
    Es war an der Zeit, dass wir uns eine neueTelefonnummer zulegten; eine, die nicht im Telefonbuch stand.
    Bevor wir sie beantragten, sprach uns Paula Malloy von Deadline mehrmals auf den Anrufbeantworter; sie wollte unbedingt eine Folgesendung mit uns machen. Wir riefen nie zurück, und als sie bald darauf persönlich vor unserer Haustür stand, machten wir nicht auf.
    Im Krankenhaus wurde mein Brustkorb bandagiert, und Cynthia muss sich wahrscheinlich einer kosmetischen Operation unterziehen; Rolly hat ihr einen bösen Riss in der Wange zugefügt.
    Clayton Sloans Nachlass wird noch geordnet. Cynthia ist unschlüssig, ob sie das Erbe überhaupt antreten will, aber darüber werde ich noch mal ein Wort mit ihr reden.
    Vince Fleming wurde vom Krankenhaus in Lewiston in die Klinik von Milford verlegt. Er erholt sich langsam. Bei meinem gestrigen Besuch meinte er, Jane müsse jetzt endlich mal was für ihren Notenschnitt tun. Ich sagte, ich arbeite dran.
    Ich habe ihm versprochen, Jane nach ihrem Abschluss bei der Wahl einer Uni oder einer Journalistenschule zu helfen. Obwohl ich dann wahrscheinlich an einer anderen Schule unterrichten werde, denn ich werde mich versetzen lassen. Kaum denkbar, dass mir die Kollegen weiterhin unbefangen begegnen, nachdem ich unseren Direktor des zweifachen Mordes bezichtigt habe.
    Das Telefon klingelte. Cynthia hielt den Hörer schon in der Hand, ehe das erste Klingeln verhallt war.
    »Oh«, sagte sie. »Ist alles okay? Keine Probleme?Gut … Dann gib mir mal deine Lehrerin … Hallo, Mrs Enders. Ja, wunderbar, dann scheint ja alles in bester Ordnung zu sein … Danke … Vielen, vielen Dank … Ja, das war alles ein bisschen viel in letzter Zeit. Ich denke, ich hole sie dann doch lieber persönlich ab. Zumindest heute noch. Okay … danke. Ja, Ihnen auch. Auf Wiederhören.«
    Sie legte auf. »Alles okay«, sagte sie.
    »Das habe ich mir gedacht«, sagte ich, und dann traten uns beiden Tränen in die Augen.
    »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich.
    Cynthia griff nach einem Papiertaschentuch und tupfte sich die Augen. »Ja. Magst du einen Kaffee?«
    »Gern«, sagte ich. »Warte kurz auf mich. Ich muss nur eben etwas holen.«
    Ich ging zur Garderobe, griff in die Innentasche der Jacke, die ich in jener schicksalhaften Nacht getragen hatte, und zog den Umschlag heraus. Dann begab ich mich wieder in die Küche, wo Cynthia vor ihrem Kaffee saß; an meinem Platz stand ebenfalls ein dampfender Becher.
    »Zucker ist schon drin«, sagte sie, und im selben Moment erblickte sie den Umschlag in meiner Hand. »Was ist denn das?«
    Ich setzte mich.
    »Ich habe auf den richtigen Moment gewartet«, sagte ich. »Darf ich dir kurz erklären, was sich in diesem Umschlag befindet?«
    Cynthia sah mich an wie eine Patientin, die eine besonders schlimme Diagnose erwartet.
    »An jenem Abend vor fünfundzwanzig Jahren, als duso sauer auf deine Eltern
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