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Virtuosity - Liebe um jeden Preis

Virtuosity - Liebe um jeden Preis

Titel: Virtuosity - Liebe um jeden Preis
Autoren: Jessica Martinez
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Das Balkongeländer fühlte sich kühl an, als ich meine Wange dagegen presste. Der Verkehr, der zehn Etagen unter mir über den Lake Shore Drive schnurrte, schien meilenweit entfernt. Alles um mich herum war vollkommen still: der schwarze sternenlose Himmel über dem Lake Michigan, mein nackter Arm, den ich zwischen den Metallstäben hindurchgesteckt hatte, und das gedeckte Orange der Geigenschnecke, die aus meiner Faust emporragte.
    Es wäre so leicht, meine Hand zu öffnen. Ich könnte einfach einen Finger nach dem anderen lockern. Wenn sich der letzte löste, würde die Geige den Nachthimmel wie eine Klinge zerteilen und in die Tiefe stürzen. Dann wäre alles vorüber.
    Ich atmete aus und fühlte, wie mein Körper auf den Betonboden sank. Diana würde stinksauer sein wegen der Abendrobe. Ihre persönliche Damenschneiderin hatte das hauchdünne Chiffon gedreht, gefaltet und plissiert, bis es wie ein Wasserfall aussah, fließende Kaskaden in drei Blautönen. Jetzt lag es zerknittert unter mir und nahm wahrscheinlich gerade Dreck, Fett, Zigarettenasche und alles andere auf, was sich so auf Hotelbalkonen ansammelte.
    Ich zitterte. Der Wind fuhr um mich herum, hob meine Haare, schleuderte sie gegen meine Wange und meinen freien Rücken. Die Haarspangen und -klammern waren schon lange nicht mehr da – die hatte ich als Erstes aus meiner Frisur gezogen, nachdem ich das Hotelzimmer betreten hatte. Dann hatte ich die hochhacki­gen Schuhe abgestreift, die Strumpfhose heruntergerollt und die Ohrringe abgenommen. Aber nichts half. Die Scham, die an meiner Haut klebte, war durch nichts zu entfernen.
    Also war ich mit meiner Geige auf den Balkon gegangen.
    Immer noch fühlte ich, wie sich dieser Albtraum in mir festbiss, die Anspannung in der Brust, im Kopf, in den Waden, in den Fingern.
    1,2 Millionen.
    So viel war die Geige wert. Aber die Summe war nur schwer nachvollziehbar. Schwer fühlbar . Ich ließ die Geige baumeln, nur ein wenig, und schloss die Augen. Mord . Als sich dieses Wort in meine Gedanken schlich, verwarf ich es sofort. Das war lächerlich. Schließlich war die Geige kein Baby oder ein Tier. Sie lebte nicht.
    Das wirklich zu glauben wäre leichter gewesen, wenn ich nicht gespürt hätte, wie sie atmete und sang, während ich auf ihr spielte.
    Ich öffnete die Augen. Meine Finger, hager und weiß, zitterten. Die Wirkung der Tabletten ließ nach. Die Musik war verklungen.
    Ich ließ los.

Kapitel 1
    »Carmen, jetzt starr nicht so! Du kannst ihn ja doch nicht mit den Augen herbeizaubern«, ermahnte mich Heidi.
    Sie hatte natürlich recht. Aber ich wollte nicht riskieren, ihn zu verpassen. Der Hinterausgang des Chicago Symphony Centers öffnete sich nicht, wie schon in der letzten halben Stunde. Bald musste er einfach herauskommen!
    »Lass uns tauschen«, schlug sie vor.
    Ich blickte kurz auf meinen Nachtisch, eine Mini-Schokoladentorte, aus deren Mitte geschmolzene Schokolade floss, mit einem Klecks Sahne obendrauf. Dann sah ich auf Heidis Dessert, ein Zitronenküchlein, das von einer unnatürlich gelben Wolke aus gesponnenem Zucker umgeben war. Sie hatte gerade mal einen Bissen probiert.
    »Stimmt irgendwas nicht mit deinem Nachtisch?«, fragte ich und hielt dabei den Blick fest auf den Ausgang gerichtet.
    »Nein. Ich finde ihn nur zu sauer. Aber sieh dir den Kuchen mal an. Sieht er nicht hübsch aus?« Sie stieß mit der Gabel dagegen.
    »Hm …« Das war mir eigentlich egal. Wo blieb er ?
    Heidi wusste, dass sie mich fast überredet hatte, und lächelte. Dann strich sie sich ihre seidigen blonden Haare hinter die Ohren. Wieder schielte sie auf meinen Teller. »Und du magst doch gern Zitrone, oder nicht?«
    »Schon.« Ich schob meinen Teller zu ihr hinüber. Zumindest hasste ich Zitrone nicht.
    »Du bist einfach klasse«, sagte sie, während ihre Gabel bereits in meine Torte sank.
    »Weiß ich.«
    Ich probierte ihren Nachtisch. Die Zitronencreme war wirklich sauer, insbesondere nach der Schokoladentorte, aber der Zuckerguss war schrecklich süß. Elegant und voll im Trend, wie alles, was auf der Karte vom Rhapsody stand, aber nichts, das ich wirklich essen wollte.
    Ich nahm noch einen Bissen, schob das Küchlein dann aus dem Weg und stützte das Kinn auf die Hände. Ich hatte diesen Ecktisch auf der Terrasse ausgesucht, weil man von hier einen ungestörten Blick auf die Hintertür des Symphony Centers hatte. Wir saßen so dicht dran, dass wir die abgeblätterte Farbe an der Tür sehen konnten. Trotzdem
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