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October Daye: Winterfluch (German Edition)

October Daye: Winterfluch (German Edition)

Titel: October Daye: Winterfluch (German Edition)
Autoren: Seanan McGuire
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kaum verschleiern. Er fürchtete eindeutig, wenn ich bliebe, würde ich beginnen, ihm Einzelheiten zu erzählen.
    Es erschien mir am besten, mein Glück nicht auf die Probe zu stellen. Ich streifte mir die Uniformschuhe von den Füßen und verstaute sie in meinem Spind, dann griff ich mir meinen Mantel und meine Turnschuhe, zog beides hastig an und steuerte auf die Tür zu, ohne Pete Gelegenheit zu bieten, es sich anders zu überlegen. Drei lange Schritte vorbei an meinen teilnahmslosen Mitbeschäftigten, und ich war hinaus in die bitterkalte Luft der Gasse hinter dem Laden getreten und frei. Die Tür fiel hinter mir zu, und alles präsentierte sich in einem fahlen, wässrigen Grau, erhellt vom fernen Schimmer der Straßenlaternen.
    Der Nebel war seit dem Beginn meiner Schicht aufgezogen und gestaltete es unmöglich, mehr als wenige Meter weit zu sehen. Zitternd steckte ich die Hände in die Taschen. Wenn es in San Francisco mal kalt wird, dann aber richtig. Als kleine Zugabe spürte ich, wie sich bereits Feuchtigkeit in meinem Haar und auf meiner Haut festsetzte. Meine Schuhe und Hosenbeine würden triefnass sein, bis ich zu Hause ankäme.
    »Puh«, brummte ich und setzte mich dorthin in Bewegung, wo die Gasse mündete. Sobald ich mich auf der Straße befand, konnte ich den langen Marsch nach Hause antreten, der vorwiegend bergauf verlief. Wäre ich bis zum Ende meiner Schicht geblieben, ich hätte den Bus genommen. Aber die Begegnung mit Mitch hatte mich aufgewühlt, und der Spaziergang würde mir guttun.
    Die Kälte wich, als ich den ersten Hügel zwischen mir und meinem Ziel erklomm. Die Anstrengung sorgte für die dringend benötigte Wärme. Ich sah auf die Uhr. Sofern der Kalender im Supermarkt stimmte, waren es noch rund dreiunddreißig Minuten bis zum Sonnenaufgang. Das war genug Zeit, wenn ich nicht langsamer wurde, anhielt, stolperte oder sonst etwas anderes tat, als zu gehen. Der Sonnenaufgang zerstört nämlich kleine Zauber, und dazu gehört alles, was mir meine Kräfte zu wirken erlaube n – wie die Trugbanne, mit denen ich als menschlich durchging. Schlimmer noch, er raubte mir die Kräfte, zumindest vorübergehend. Befände ich mich unter freiem Himmel, wenn die Sonne aufging, so konnte ich durchaus noch vor dem Mittag auf der Titelseite einer Boulevardzeitung landen. Aber wie gesagt, die Zeit reichte, solange nichts dazwischenkam.
    Die Straße führte mich in Windungen den Hügel hinauf und durch den allmählich dämmernden Morgen hindurch. Im Gehen behielt ich die Hände in den Taschen und versuchte mich darauf zu konzentrieren, nach Hause zu kommen, ohne an Mitch auf dem Weg zu seiner Familie oder an sonst etwas Besonderes zu denken. Nachdenken bewirkte nur, dass ich mich daran erinnerte, was ich schon alles verloren hatte.
    Abgesehen vom entfernten Rumoren des Verkehrs auf der Schnellstraße herrschte ringsum Stille. Schaudernd lief ich etwas schneller und bog in eine Nebenstraße ein, in eine Gegend, in der es nach verfaultem Obst und süßlicher Verwesung roch. Ein schwarzes Pferd stand in den tiefsten Schatten am Randstein. Der Gestank von Unrat überlagerte den typischen Blut- und Seetangduft des Tieres. Seine Augen waren rot, und der Blick, mit dem es mich bedachte, wirkte einladend und versprach wilde Abenteuer und fantastische Genüsse, wenn ich nur auf seinen Rücken stiege. Ich winkte es mit einer Hand weg und ging weiter. Nur ein Idiot würde einem Kelpie so nah am Wasser vertrauen. Ihn zu besteigen, während der Geruch des Meeres in der Luft lag, käme einem schnellen, aber schmerzlichen Selbstmord gleich, und ich stehe nicht auf Schmerzen.
    Der Kelpie trat mit glühenden Augen einige Schritte vor. So sehr ich auch versucht hatte, die Existenz von Faerie zu verleugnen, die Bedrohung würde nicht verschwinden, indem ich sie einfach ignorierte. Seufzend blieb ich stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Bist du sicher, dass du das tun willst?«
    Das Wesen näherte sich weiter.
    Gut. Es bedurfte also einer direkteren Vorgehensweise. Ich hob die Arme, schob mir das Haar zurück und setzte den Trugbann aus, der die Form meiner Ohren verbarg. Ich achtete darauf, die Erschöpfung aus meiner Stimme zu verbannen, und fragte: » Ganz sicher?«
    Kelpies sind klüger als Pferde und erkennen eine Gefahr, wenn sie damit konfrontiert werden. Gewiss, ich bin bloß ein Wechselbalg, aber ich war offenbar bereit, mich allein in einer nebligen Nacht und nur einen Steinwurf vom Wasser entfernt
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