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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch
Autoren: Mitch Albom
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und ich spürte, dass sie mich wieder trug, fühlte, wie der Wind über mein Gesicht strich. Ich sah nur Schwärze, als bewegten wir uns hinter einem Vorhang. Dann verschwand die Dunkelheit, und ich sah Sterne. Tausende. Sie bettete mich ins Gras, brachte meine zerstörte Seele in diese Welt zurück.
    »Mama...« Mein Hals war rau. Zwischen den einzelnen Worten musste ich schlucken. »Diese Frau...? Was hat sie gesagt?«
    Sie ließ behutsam meine Schultern los. »Vergeben.«
    »Ihr soll ich vergeben? Oder Paps?«
    Mein Kopf lag auf der Erde. Ich spürte, wie mir warmes Blut über die Schläfen rann.
    »Dir selbst«, antwortete meine Mutter.
    Mein Körper verschloss sich. Ich konnte weder meine Arme noch meine Beine bewegen. Ich driftete davon. Wie viel Zeit blieb mir noch?
    »Ja«, röchelte ich.
    Sie sah mich verwirrt an.
    »Ja, du warst mir eine gute Mutter.«
    Sie hielt die Hand vor den Mund, um ihr Grinsen zu verbergen.
    »Bleib am Leben«, sagte sie.
    »Nein, warte -«
    »Ich liebe dich, Charley.«
    Sie winkte mir zu. Ich weinte.
    »Ich werde dich verlieren...«
    »Man kann seine Mutter nicht verlieren, Charley. Ich bin da.«
    Dann blendete mich ein greller Lichtstrahl, und ich konnte sie nicht mehr sehen.
    »CHARLES BENETTO. KÖNNEN SIE MICH HöREN?«
    Meine Glieder kribbelten.
    »WIR WERDEN SIE JETZT BEWEGEN.«
    Ich wollte meine Mutter zurückholen.
    »HöREN SIE UNS, CHARLES?«
    »Ich und meine Mutter«, murmelte ich.
    Jemand küsste mich sanft auf die Stirn.
    »Meine Mutter und ich«, murmelte ich.
    Und dann war sie verschwunden.
     
     
    Ich blinzelte heftig. Ich sah den Himmel, die Sterne. Dann stürzten die Sterne auf mich zu, wurden immer größer, sahen so rund und weiß aus wie ein Baseball, und ich öffnete unwillkürlich die Hände, um sie zu fangen.
    »WARTET MAL! SCHAUT MAL, DIE HöNDE!«
    Die Stimme wurde ein bisschen leiser.
    »CHARLES?«
    Noch leiser.
    »Charles…? Hey, na bitte, Kumpel. Komm zurück zu uns... JAWOLL! JUNGS!«
    Er schwenkte seine Taschenlampe, um zwei andere Polizisten herbeizurufen. Er war jung, wie ich vermutet hatte.

Chicks letzte Gedanken
    W ie ich schon gesagt habe, als wir uns hier zusammensetzten: Ich erwarte nicht, dass man mir Glauben schenkt. Ich habe diese Geschichte noch nie erzählt, mir aber immer gewünscht, dass es dazu kommen würde. Ich habe auf die Gelegenheit gewartet. Und nun, da ich sie bekommen habe, bin ich froh.
    Ich habe so viele Einzelheiten aus meinem Leben vergessen, doch ich erinnere mich an jeden Moment dieser Zeit mit meiner Mutter, an sämtliche Menschen, denen wir begegnet sind, an alles, worüber wir sprachen. Vieles daran war so alltäglich, aber wie sie sagte: In jedem alltäglichen Augenblick kann man etwas wahrhaft Wichtiges finden. Man mag mich für verrückt halten oder glauben, dass ich mir die ganze Sache eingebildet habe. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass meine Mutter, die irgendwo zwischen dieser und der nächsten Welt weilte, mir einen weiteren Tag geschenkt hat, den Tag, den ich mir so sehnlichst gewünscht habe, und dass sie mir alles so erzählt hat, wie ich es hier geschildert habe.
    Und wenn meine Mutter etwas sagt, glaube ich ihr aufs Wort.
    »Wie entsteht ein Echo?«, fragte sie mich einst.
    Durch Reflexion des Schalls.
    »Wann kann man ein Echo hören?«
    Wenn es still ist.
    Wenn es still ist, höre ich noch immer das Echo meiner Mutter.
    Ich schäme mich nun dafür, dass ich mir das Leben nehmen wollte. Es ist so kostbar. Niemand war bei mir, der mir meine Verzweiflung nehmen konnte, und das war ein Fehler. Man muss dafür sorgen, dass man Menschen in seiner Nähe hat. Man muss ihnen Zugang zum eigenen Herzen gewähren.
    In den letzten zwei Jahren hat sich viel zugetragen: Krankenhausaufenthalt, Behandlung, Ortswechsel. Sagen wir einfach, dass ich in vielerlei Hinsicht Glück gehabt habe. Ich bin am Leben. Ich habe niemanden getötet. Ich habe nie wieder Alkohol angerührt – wenn es mir an manchen Tagen auch schwerfällt.
    Ich habe viel nachgedacht über jene Nacht. Ich glaube, dass meine Mutter mir das Leben gerettet hat. Ich glaube ferner, dass Eltern, die ihre Kinder lieben, sie hochhalten werden über die wirbelnden Wasser, in denen sie selbst sich aufhalten; manchmal führt das dazu, dass man nicht verstehen kann, was sie durchlitten haben, und dann behandelt man sie ungerecht.
    Doch zu allem gibt es eine Geschichte: Weshalb ein Bild an der Wand hängt. Weshalb jemand eine Narbe im Gesicht hat. Manchmal
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