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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch
Autoren: Mitch Albom
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nicht zu bemerken. Aber es kam mir vor, als hörte sie meiner Mutter zu.
    »Ich glaube, dass dein Vater während des Krieges große Angst hatte. Er wusste nicht, wie lange der Krieg noch dauern würde. In diesen Bergen kamen viele Männer ums Leben. Vielleicht konnte sie ihm Halt geben. Vielleicht glaubte er, dass er nie wieder nach Hause zurückkehren würde. Wer weiß? Er brauchte immer einen Plan, dein Vater, das hat er oft gesagt: ›Man muss einen Plan haben. Man muss einen Plan haben.‹«
    »Ich verstehe das nicht«, sagte ich. »Er hat dir doch diesen Brief geschrieben.«
    »Ja.«
    »Er hat dir einen Heiratsantrag gemacht, und du hast ihn angenommen.«
    Sie seufzte. »Als er merkte, dass der Krieg zu Ende ging, wollte er wohl lieber einen anderen Plan verwirklichen – den alten, mit mir. Die Dinge ändern sich, wenn man nicht mehr in Lebensgefahr schwebt, Charley. Und deshalb -« Sie hob das Haar der Frau von deren Schultern. »Ließ er sie zurück.«
    Sie hielt inne.
    »Das hat er ja immer gerne gemacht.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Aber warum hast du -«
    »Er hat es mir nicht gesagt, Charley. Er hat es niemandem gesagt. Aber irgendwann im Lauf der Jahre hat er sie wiedergefunden. Oder sie ihn. Und schließlich hat er sie nach Amerika geholt und ein zweites Leben begonnen. Er kaufte sogar ein zweites Haus. In Collingswood. Wo er den anderen Laden eröffnet hat, erinnerst du dich?«
    Die Frau legte die Bürste weg. Meine Mutter faltete die Hände und stützte ihr Kinn darauf.
    »Ihre ziti waren es, die dein Vater all die Jahre von mir verlangt hat.« Sie seufzte. »Aus irgendeinem Grund wurmt mich das immer noch.«
     
     
    Und dann erzählte sie mir den Rest der Geschichte. Wie sie alles herausgefunden hatte. Wie sie ihn gefragt hatte, wieso sie von dem Hotel in Collingswood nie eine Rechnung bekamen. Wie er antwortete, er würde bar zahlen, was sie misstrauisch machte. Wie sie dann an einem Freitagabend einen Babysitter bestellte und allein nach Collingswood fuhr, alle Straßen absuchte, bis sie seinen Buick auf der Zufahrt eines fremden Hauses stehen sah und in Tränen ausbrach.
    »Ich habe am ganzen Körper gezittert, Charley. Ich musste mich zu jedem Schritt zwingen. Ich schlich zum Fenster und schaute hinein. Sie aßen zu Abend. Dein Vater hatte sein Hemd aufgeknöpft, sodass man sein Unterhemd sah, wie bei uns. Er saß ganz entspannt beim Essen, als lebe er dort, reichte der Frau seinen Teller, und...«
    Sie verstummte.
    »Bist du sicher, dass du das alles wissen möchtest?«
    Ich nickte dumpf.
    »Ihr Sohn.«
    »Was...?«
    »Er war ein paar Jahre älter als du.«
    »Ein... Junge?«
    Meine Stimme klang schrill.
    »Es tut mir leid, Charley.«
    Mir war so schwindlig, als würde ich bewusstlos werden. Sogar jetzt fällt es mir noch schwer, darüber zu sprechen. Mein Vater, der meine Verehrung eingefordert hatte, meine Treue zu seiner Mannschaft, unserer Mannschaft, den Männern der Familie. Er hatte einen weiteren Sohn ?
    »Hat er Baseball gespielt?«, flüsterte ich.
    Meine Mutter sah mich hilflos an.
    »Charley«, sagte sie, den Tränen nahe, »das weiß ich wirklich nicht.«
     
     
    Die Frau im Morgenmantel zog eine kleine Schublade auf, holte einige Papiere heraus und sah sie durch. War sie wirklich diese Frau, von der meine Mutter erzählte? Italienisch sah sie aus, und sie hatte auch das passende Alter. Ich versuchte mir vorzustellen, wie mein Vater sie kennen gelernt hatte. Ich versuchte mir die beiden zusammen vorzustellen. Ich wusste nichts über diese Frau oder diese Wohnung hier, aber ich spürte überall die Anwesenheit meines alten Herrn.
    »An diesem Abend, Charley«, sagte meine Mutter, »bin ich nach Hause gefahren und habe mich an den Bordstein gesetzt. Ich wollte nicht mal, dass er seinen Wagen auf die Zufahrt stellt. Nach Mitternacht kam er angefahren, und ich werde nie seinen Gesichtsausdruck vergessen, in dem Moment, als er mich im Scheinwerferlicht sah. Er schien sofort zu wissen, dass er aufgeflogen war.
    Ich stieg ins Auto und zwang ihn dazu, alle Fenster zu schließen. Ich wollte nicht gehört werden. Und dann bin ich explodiert. Und zwar so gewaltig, dass er mir keine Lügen mehr auftischen konnte. Schließlich packte er aus, offenbarte mir, wer sie war, wo sie sich kennen gelernt hatten, worum er sich bemüht hatte. Mir drehte sich der Kopf. Mein Magen schmerzte so sehr, dass ich nicht mehr aufrecht sitzen konnte. Man rechnet ja mit allerhand in einer Ehe, Charley, aber
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