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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch
Autoren: Mitch Albom
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ich keine Luft mehr.
    »Du wusstest...?«
    Sie lächelte traurig.
    »Ich bin deine Mutter.«
    In mir zog sich etwas zusammen. Ich atmete heftig aus. »Mama... ich bin nicht so, wie du glaubst... ich habe alles kaputtgemacht. Ich bin zum Trinker geworden. Ich habe alles verloren. Auch meine Familie...«
    »Nein, Charley...«
    »Doch.« Meine Stimme war zittrig. »Ich bin nicht mehr zurechtgekommen... Catherine hat mich verlassen, Mama. Sie hat es nicht mehr ausgehalten mit mir…Maria lässt mich nicht einmal mehr teilhaben an ihrem Leben... sie ist verheiratet... ich war nicht mal bei der Hochzeit... ich gehöre nirgendwo mehr dazu... nicht einmal mehr zu den Menschen, die ich geliebt habe...«
    Ich rang um Atem. »Und du…an diesem letzten Tag... ich hätte niemals weggehen dürfen... ich konnte dir nie sagen...«
    Mir versagte vor Scham fast die Stimme.
    »... wie leid es mir tut... es tut mir so... so...«
    Mehr brachte ich nicht heraus. Ich sank zu Boden, schluchzte hemmungslos, der Damm brach, und ich heulte und klagte. Ich nahm nichts mehr wahr außer meinen brennenden Augen. Wie lange das so ging, weiß ich nicht mehr. Als ich meine Stimme wiederfand, konnte ich nur noch krächzen.
    »Ich wollte, dass es ein Ende hat, Mama... dieser Zorn, diese Schuldgefühle. Deshalb... wollte ich sterben...«
    Ich blickte auf und gestand die Wahrheit, zum ersten Mal.
    »Ich habe aufgegeben«, flüsterte ich.
    »Tu das nicht«, raunte meine Mutter.
    Ich schäme mich nicht zu erzählen, was ich dann tat: Ich vergrub den Kopf in den Armen meiner Mutter, und sie streichelte meinen Nacken. So hielten wir uns fest. Nicht lange, aber ich kann nicht in Worte fassen, wie viel Trost mir dieser Augenblick gespendet hat. Ich weiß nur, dass ich mich auch jetzt noch, während ich dies erzähle, danach sehne.
    »Ich war nicht da, als du starbst, Mama.«
    »Du hattest zu tun.«
    »Ich habe gelogen. Es war die schlimmste Lüge, die ich jemals ausgesprochen habe... Ich habe nicht gearbeitet. Ich habe an einem Baseballspiel teilgenommen... an einem blöden Spiel... ihm zuliebe -«
    »Deinem Vater.«
    Sie nickte sanft.
    Und mir wurde klar, dass sie auch das schon immer gewusst hatte.
    Die Italienerin zog ihren Morgenmantel dichter um sich und faltete die Hände, als bete sie. Ein sonderbares Trio gaben wir ab, die wir uns an irgendeinem Punkt im Leben alle danach gesehnt hatten, von ein und demselben Mann geliebt zu werden. Ich hatte noch immer seine Worte im Ohr, mit denen er die Entscheidung erzwang: Mamakind oder Papakind, Chick? Was willst du sein?
    »Ich habe mich falsch entschieden«, flüsterte ich.
    Meine Mutter schüttelte den Kopf.
    »Ein Kind sollte sich niemals für eine Seite entscheiden müssen.«
     
     
    Die Italienerin stand auf, wischte sich die Augen, rang um Fassung. Dann schob sie zwei Dinge zusammen, die auf der Frisierkommode lagen. Meine Mutter bedeutete mir, näher zu treten, damit ich besser sehen könne.
    Ein Foto von einem jungen Mann mit Doktorhut, vermutlich ihr Sohn.
    Und meine Baseballkarte.
    Die Frau blickte in den Spiegel und sah uns; alle drei waren wir von dem Spiegel umfasst, als sei er der Rahmen eines eigenartigen Familienporträts. Nur in diesem Augenblick war ich mir sicher, dass die Frau mich sehen konnte.
    » Perdonare «, murmelte sie.
    Und alles um uns herum verschwand.

Das Ende von Chicks Geschichte
    D ie früheste Kindheitserinnerung zu ermitteln ist nicht einfach. Meine reicht zurück in mein drittes Lebensjahr. Es war Sommer. Ein Vergnügungspark in der Nähe unseres Hauses, wo es Ballons und Zuckerwatte gab. Männer, die gerade Tauziehen gemacht hatten, standen Schlange am Trinkwasserspender.
    Ich war offenbar durstig, denn meine Mutter packte mich unter den Armen und trug mich ganz nach vorn. Und ich weiß noch, wie sie sich vor diese verschwitzten Männer drängte, mich mit einem Arm an die Brust drückte und mit der freien Hand den Wasserhahn aufdrehte. »Trink, Charley«, flüsterte sie mir ins Ohr, und ich beugte mich vor und trank gierig, während all diese Männer darauf warteten, dass sie endlich an der Reihe waren. Ich spüre noch immer ihren Arm. Ich sehe noch immer das sprudelnde Wasser. Das ist meine früheste Erinnerung, Mutter und Sohn in ihrer eigenen Welt.
    Nun, am Ende dieses letzten Tages, den wir zusammen verbrachten, geschah etwas Ähnliches. Mein Körper fühlte sich völlig kaputt an. Ich konnte mich kaum mehr bewegen. Aber meine Mutter legte mir den Arm um die Brust,
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