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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch
Autoren: Mitch Albom
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von Weinreben, über dem Bett ein Kreuz. In der Ecke, vor einem großen Spiegel, stand eine Frisierkommode aus hellem Holz. Davor saß eine dunkelhaarige Frau in einem Morgenmantel, der die Farbe einer rosa Grapefruit hatte, und blickte in den Spiegel.
    Sie musste etwa Mitte siebzig sein, hatte eine lange, schmale Nase und Wangenknochen, die noch immer markant wirkten, obwohl ihre olivfarbene Haut faltig war. Langsam, gedankenverloren, den Blick nach unten gewandt, bürstete sie ihr Haar.
    Meine Mutter trat hinter sie. Sie begrüßte die Frau nicht, sondern berührte deren Hände, und nun verschmolzen die Hände der beiden Frauen; die eine bürstete, die andere strich das Haar glatt.
    Die Frau blickte auf, als wolle sie sich im Spiegel betrachten, aber ihre Augen wirkten verschleiert. Sie schien meine Mutter sehen zu können.
    Beide sprachen kein Wort.
    »Mama«, flüsterte ich schließlich, »wer ist das?«
    Meine Mutter wandte sich um, ließ die Hände jedoch im Haar der Frau ruhen.
    »Die Ehefrau deines Vaters«, sagte sie.

Als ich meine Mutter im Stich ließ
    Nehmen Sie die Schaufel, bedeutete der Priester mir mit den Augen. Ich sollte Erde auf den Sarg meiner Mutter werfen, der bereits ins Grab gesenkt worden war. Der Priester hatte mir zuvor erklärt, dass meine Mutter diesen Brauch bei jüdischen Bestattungen gesehen und sich für ihr eigenes Begräbnis gewünscht hatte. Sie fand, dass es den Trauernden helfen könne zu akzeptieren, dass der Leib vergänglich sei und sie die Seele in Erinnerung behalten sollten. Ich hörte im Geiste, wie mein Vater sie schalt, wie er sagte: »Posey, was du dir immer für einen Blödsinn einfallen lässt.«
    Ich nahm die Schaufel entgegen wie ein Kind, dem man ein Gewehr reicht, blickte zu meiner Schwester Roberta, die einen schwarzen Schleier trug und am ganzen Körper zitterte, zu meiner Frau, die tränenüberströmt zu Boden schaute und mit der rechten Hand mechanisch unserer Tochter über den Kopf streichelte. Nur Maria sah mich an. Und ihr Blick schien zu sagen: »Tu es nicht, Paps. Gib sie zurück.«
    Ein Baseballspieler weiß genau, ob er seinen eigenen Schläger oder einen fremden in der Hand hält. Und so war mir zumute, als mir diese Schaufel gereicht wurde. Sie gehörte nicht in meine Hände. Sie gehörte zu einem Sohn, der seine Mutter nicht belog. Sie gehörte zu einem Sohn, dessen letzte Worte zu seiner Mutter nicht im Zorn gesprochen wurden. Sie gehörte zu einem Sohn, der nicht verschwunden war, um die jüngste Laune seines alten Herrn zu befriedigen, welcher wiederum auch bei diesem Anlass nicht zugegen war, mit der Ausflucht: »Besser, ich komme nicht. Sonst regt sich womöglich jemand auf.«
    Jener Sohn wäre übers Wochenende bei seiner Mutter geblieben, hätte mit seiner Frau im Gästezimmer geschlafen und am Sonntag mit der ganzen Familie den Brunch zu sich genommen. Jener Sohn wäre zugegen gewesen, als seine Mutter zusammenbrach. Jener Sohn hätte sie vielleicht sogar noch retten können.
    Doch jener Sohn war nicht da.
    Dieser Sohn schluckte und tat, was man ihm aufgetragen hatte: Er warf Erde auf den Sarg. Dumpf polternd traf sie auf das polierte Holz. Und obwohl meine Mutter sich diese Geste gewünscht hatte, hörte ich sie sagen: »O Charley, wie konntest du nur?«

Die Erklärung
    S ie ist die Ehefrau deines Vaters.
    Wie kann ich diesen Satz erklären? Gar nicht. Ich kann nur wiedergeben, was der Geist meiner Mutter mir erzählte, in dieser eigenartigen Wohnung mit dem Bild von Weinreben an der Wand.
    »Sie ist die Ehefrau deines Vaters. Sie haben sich während des Krieges kennen gelernt, als dein Vater in Italien stationiert war. Davon hat er dir erzählt, oder?«
    Sehr oft. Italien, Ende des Jahres 1944. In den Apenninen und der Poebene, unweit von Bologna.
    »Sie lebte dort in einem Dorf. Sie war arm. Er war Soldat. Du weißt ja, eins kommt zum anderen. In jenen Tagen war dein Vater sehr, ich weiß nicht, wie soll man sagen? Ungestüm?«
    Meine Mutter blickte auf ihre Hände, während sie das Haar der Frau bürstete.
    »Findest du sie schön, Charley? Ich dachte mir immer, dass sie schön sei. Ist sie noch immer, auch jetzt noch. Findest du nicht?«
    In meinem Kopf drehte sich alles. »Wie meinst du das, seine Ehefrau? Du warst seine Ehefrau.«
    Sie nickte langsam.
    »Ja.«
    »Man kann nicht zwei Ehefrauen haben.«
    »Nein«, flüsterte sie, »da hast du Recht.«
     
     
    Die Frau schniefte. Ihre Augen sahen rot und müde aus. Mich schien sie
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