Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch
Autoren: Mitch Albom
Vom Netzwerk:
nicht, wie wir dich erreichen können.«
    Ich hatte meine Lügen schon parat gehabt – der Kunde, das Treffen und so fort -, aber jetzt fielen sie in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
    »Was ist los?«, sagte ich.
    »Deine Mama. O Gott, Chick. Wo warst du nur? Wir konnten -«
    »Was? Was?«
    Sie fing an zu schluchzen.
    »Sag jetzt, was los ist«, drängte ich. » Was ist passiert?«
    »Es war ein Herzinfarkt. Maria hat sie gefunden.«
    »Wa...?«
    »Deine Mutter... ist gestorben.«
     
     
    Ich wünsche jedem, dass er diese Worte niemals hören muss. Deine Mutter ist gestorben . Diese Worte sind anders als andere. Sie sind zu groß, sie passen nicht ins Ohr. Sie gehören einer fremden, dunklen, gewaltigen Sprache an, die an den Kopf hämmert wie eine Abrissbirne, wieder und wieder, bis sie ein großes Loch geschlagen haben, durch das die Worte ins Hirn eindringen können. Und wenn sie da angelangt sind, reißen sie einen in Stücke.
    »Wo?«
    »In ihrem Haus.«
    »Wo, ich meine, wann?«
    Einzelheiten schienen plötzlich ungeheuer wichtig. An Einzelheiten konnte man sich festklammern, in die Geschichte hineintasten. »Wie ist sie -«
    »Chick«, sagte Catherine leise, »komm einfach nach Hause, ja?«
    Ich nahm mir einen Mietwagen. Fuhr die ganze Nacht hindurch. Auf dem Rücksitz saßen der Schock und die Trauer, auf dem Vordersitz die Schuld. Kurz vor Sonnenaufgang kam ich in Pepperville Beach an. Ich fuhr auf die Zufahrt am Haus, stellte den Motor ab. Der Himmel wurde faulig rot. Im Auto stank es nach Bier. Als ich dasaß und zusah, wie die Sonne langsam aufging, wurde mir bewusst, dass ich meinen Vater nicht angerufen hatte, um ihm mitzuteilen, dass meine Mutter gestorben war. In meinem tiefsten Inneren ahnte ich, dass ich meinen Vater nie wiedersehen würde.
    Und so war es auch.
    Ich verlor beide Elternteile an einem Tag, den einen an die Scham, den anderen an die Schatten.

Dritter und letzter Besuch
    M eine Mutter und ich gingen nun durch eine Stadt, die ich nicht kannte. Sie war gesichtslos; am einen Ende gab es eine Tankstelle, am anderen einen kleinen Lebensmittelladen. Die Telefonmasten und die Rinde der Bäume waren bräunlich wie Pappe, und die Bäume hatten schon fast alle Blätter verloren. Vor einem zweistöckigen Wohnhaus blieben wir stehen. Es war hellgelb.
    »Wo sind wir?«, fragte ich.
    Meine Mutter blickte zum Horizont. Die Sonne war schon untergegangen.
    »Du hättest vorhin mehr essen sollen«, sagte sie.
    Ich verdrehte die Augen. »O bitte.«
    »Was? Ich möchte doch nur sicher sein, dass du genug gegessen hast. Du musst gut auf dich Acht geben, Charley.«
    In ihren Augen sah ich diesen uralten, unerschütterlichen Berg, die Sorge um mich. Und mir wurde bewusst, dass man die reinste und hingebungsvollste Liebe seines Lebens erblickt, wenn man seine Mutter anschaut.
    »Ich wünschte, wir hätten das früher schon getan, weißt du, Mama?«
    »Du meinst, bevor ich starb?«
    »Ja«, sagte ich leise.
    »Ich war da.«
    »Ich weiß.«
    »Du hattest zu viel zu tun.«
    Ich schauderte, als sie das sagte. Es klang so leer und inhaltslos. Ein resignierter Ausdruck trat auf ihr Gesicht. Ich glaube, wir dachten in diesem Moment beide daran, wie anders alles geworden wäre, hätten wir noch einmal von vorn beginnen können.
    »Charley«, sagte sie, »war ich dir eine gute Mutter?«
    Ich wollte ihr gerade antworten, als ein greller Blitz mich blendete und sie verschwinden ließ. Hitze brannte auf meinem Gesicht, als stünde ich in der Sonne. Und wieder diese brüllende Stimme:
    »CHARLES BENETTO! MACHEN SIE DIE AUGEN AUF!«
    Ich blinzelte heftig. Plötzlich war ich ganz weit von meiner Mutter entfernt, als sei sie weitergegangen und ich sei stehen geblieben. Ich blinzelte wieder. Jetzt war sie noch weiter weg, ich konnte sie kaum noch erkennen. Ich streckte die Hände nach ihr aus und versuchte angestrengt, sie zu erreichen. Meine Schultern schmerzten, alles drehte sich. Ich versuchte, sie zu rufen, und das Wort brannte in meiner Kehle. Ich brauchte meine ganze Kraft dafür.
    Und dann war sie plötzlich wieder bei mir, nahm mich bei der Hand, so ruhig, als sei nichts geschehen. Wir glitten zurück an die Stelle, an der wir zuvor gestanden hatten.
    »Ein Besuch noch«, wiederholte sie.
    Sie drehte mich zu dem hellgelben Haus, und im selben Moment befanden wir uns auch schon in einer Wohnung mit niedrigen Decken und schweren Möbeln. Das Schlafzimmer war klein, die Tapete avocadogrün. An der Wand hing ein Bild
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher