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Nur einen Tag noch

Titel: Nur einen Tag noch
Autoren: Mitch Albom
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sechzig war, ständig Tabaksaft auf den Boden spuckte und murmelte: »Na los, ihr Schätzchen, na los.«
    Als ich schließlich mit Schlagen an die Reihe kam, war das Stadion höchstens halb voll. Ich machte ein paar Übungsschwünge und trat in die Batter’s Box. Die Sonne verschwand hinter einer Wolke. Ich hörte einen Verkäufer seine Ware anbieten. Spürte, wie mir der Schweiß auf die Stirn trat. Verlagerte mein Gewicht. Und obwohl ich diese Bewegungen schon unzählige Male in meinem Leben ausgeführt hatte – den Schläger fest umfassen, die Schultern hochziehen, die Zähne zusammenbeißen, die Augen verengen -, pochte mein Herz wie wild. Ein paar Sekunden lang hatte ich wohl nur den Wunsch zu überleben. Der erste Pitch kam. Ich ließ ihn durchgehen, ohne zu schlagen. »Ball eins!«, rief der Schiedsrichter, und ich hätte mich am liebsten bei ihm bedankt.
     
     
    Während man etwas erlebt, fragt man sich manchmal, was wohl gerade anderswo auf der Welt geschieht, nicht wahr? Nach der Scheidung stand meine Mutter oft bei Sonnenuntergang auf der hinteren Veranda, rauchte eine Zigarette und sagte: »Gerade jetzt, Charley, während hier die Sonne hinterm Horizont verschwindet, geht sie in einem anderen Teil der Welt wieder auf. In Australien oder China oder irgendwo. Du kannst es im Lexikon nachschauen.«
    Dann stieß sie den Rauch aus und blickte an den Gärten der Nachbarn mit ihren Wäschestangen und Kinderschaukeln entlang.
    »Die Welt ist so riesig«, sagte sie. »Irgendwo geschieht immer etwas.«
    Sie hatte Recht. Irgendwo geschieht immer etwas. Und während ich beim Spiel der Old Timers am Schlagmal stand und auf einen grauhaarigen Pitcher starrte, der statt eines Fastballs nur noch einen kläglichen Pitch zustande brachte; während der Ball auf mich zusegelte, ich ausholte und traf und das vertraute Twock hörte, den Schläger fallen ließ und lossprintete, in dem Glauben, dass ich etwas Großartiges vollbracht hatte, dabei vergaß, dass ich nicht mehr kraftvoll war, dass ich mich auf meine Arme und Beine nicht mehr so verlassen konnte wie früher, dass die Wände weiter entfernt sind, wenn man älter wird; während ich aufblickte und sah, dass mein vermeintlich guter Schlag, mit dem ich mir einen Homerun erhofft hatte, im Innenfeld exakt auf den Handschuh des zweiten Baseman zusegelte, ein Verlierer, ein Blindgänger, ein nasser Feuerwerkskörper, und eine Stimme in meinem Kopf gellte: »Fallen lassen! Fallen lassen!«; als der zweite Baseman mit seinem Handschuh meine letzte Leistung in diesem schrecklichen Spiel umfasste – während all das geschah, geschah bei meiner Mutter in Pepperville auch etwas.
    In ihrem Radiowecker lief Big-Band-Musik. Sie hatte gerade ihre Kissen frisch aufgeschüttelt. Sie lag wie eine kaputte Puppe in ihrem Schlafzimmer auf dem Boden. Sie hatte ihre neue rote Brille holen wollen und war zusammengebrochen.
    Ein schwerer Herzinfarkt.
    Sie tat ihre letzten Atemzüge.
    Nach dem Spiel gingen wir durch den Tunnel zurück in die Umkleideräume und kamen an den Spielern vorbei, die nach uns antraten. Sie waren jung und straff. Wir waren fett und hatten schüttere Haare. Ich nickte einem Catcher zu, der seine Gesichtsmaske in der Hand hielt. Es kam mir vor, als sehe ich mich selbst aufs Spielfeld hinausgehen.
    In der Umkleide packte ich rasch meine Sachen. Einige duschten, aber das fand ich albern. So sehr geschuftet hatten wir schließlich nicht. Ich legte mein Trikot zusammen und packte es ein, als Souvenir, zog die Tasche zu. Dann blieb ich ein paar Minuten sitzen, angezogen. Aber nichts passierte.
    Schließlich ging ich auf demselben Weg nach draußen, wie ich hereingekommen war, durch den Personaleingang. Und draußen stand mein Vater, rauchte eine Zigarette und blickte zum Himmel auf. Er schien überrascht zu sein, als ich auftauchte.
    »Danke für die Schuhe«, sagte ich und hielt sie hoch.
    »Was machst du hier draußen?«, fragte er ärgerlich. »Ist da drin niemand, mit dem du reden kannst?«
    Ich seufzte und erwiderte sarkastisch: »Weiß nicht, Dad. Ich dachte mir nur, ich sag dir mal guten Tag. Ich hab dich vor zwei Jahren oder so zum letzten Mal gesehen.«
    »Herrje.« Er schüttelte angewidert den Kopf. »Wie willst du jemals ins Spiel zurückkommen, wenn du mit mir redest?«

Chick erfährt, dass seine Mama tot ist
    H allo?«
    Die Stimme meiner Frau klang zittrig, verstört.
    »Ja, ich bin’s«, sagte ich. »Tut mir leid, ich -«
    »Oh, Chick, o Gott, wir wussten
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