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Nur Ein Toter Mehr

Nur Ein Toter Mehr

Titel: Nur Ein Toter Mehr
Autoren: Ramiro Pinilla
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ebenfalls unsterblich in mich verliebt, ja, auch er liebte mich, die Liebe stand über allem. Und so forderte ich das Schicksal heraus, wollte das Unmögliche wieder möglich machen. Ich wusste einfach nicht, wie ich meinen Schmerz sonst …«
    Ihre Sätze waren viel zu geschliffen, um nicht aus jahrelangen Überlegungen hervorgegangen zu sein, getragen von der Hoffnung, sich die Zeit, die diese Notlösung dauern würde, schönzufärben oder zumindest erträglich zu machen. Sicher hatte sie es sich die ganzen zehn Jahre immer wieder vorgesagt: »Die Liebe stand über allem.« Und wenn man Bidane so sah, wollte man ihr das auch ohne Weiteres glauben.
    Koldobike und ich hatten bis dahin noch kein Wort gesagt, sodass ich nun meinen ganzen Mut zusammennahm und sie fragte, was ihrer Meinung nach den Ausschlag gegeben hatte, den Bruder umzubringen: die Aussicht, alleiniger Besitzer des gesamten Vermögens zu werden? Oder … die Liebe? Ich selbst hatte nicht den geringsten Zweifel.
    »Sie waren Brüder und Geschäftspartner, sie glichen einander wie ein Ei dem anderen, und womöglich waren sie gar nicht so reich, wie die Leute glaubten, nicht einmal ich als Ehefrau wusste, wie viel Geld sie wirklich hatten. Aber egal, ob es nun viel war oder wenig, sie konnten sich nur gemeinsam daran erfreuen, getrennt voneinander waren sie dazu nicht fähig, der eine so wenig wie der andere. Sie waren nicht zwei Personen, sie bildeten eine Einheit.«
    »Eine Einheit, die dieselbe Frau liebte«, warf Koldobike ein.
    »Ja, ich war das Einzige, was sie im Leben nicht teilen konnten.« Bidane nickte, wobei ihr eine blonde Strähne über die Augen fiel, versunken in ihre Erinnerungen bemerktesie es nicht einmal. »Ja, ich wusste, wen ich heiratete, aber ein Jahr davor ließ ich mich für ein paar Stunden täuschen. Und diese Stunden waren später entscheidend. In eine Wolldecke gehüllt, saß er am Feuer in der Küche, als ich in jenen schrecklichen Morgenstunden zu ihm kam. Als ich ihn fragte, was passiert sei, schluchzte er nur immer in einem fort: ›Er ist … er ist neben mir ertrunken … und ich konnte nichts für ihn tun.‹ Etwas anderes war nicht aus ihm herauszukriegen. Und da dachte ich, dass wenn mein Verlobter von einem sprach, der neben ihm ertrunken war, der Ertrunkene Leonardo sein musste. Der Arme zitterte am ganzen Körper und weinte so bitterlich, dass ich mich vor ihn kniete, ihn umarmte und ihn küsste … Als ich später dann herausfand, dass er nicht Eladio war und meinen Verlobten sogar umgebracht hatte, fragte ich mich schon, ob diese Tränen echt gewesen waren. Aber warum hätten sie es auch nicht sein sollen? Zwar hatte er seinen Bruder auf dem Gewissen, aber er hatte ihn doch auch geliebt! … Jedenfalls hatte ich meinen Eladio noch nie so geliebt wie in jenen Stunden, bevor ich begriff, dass er tot war. Ich drückte ihn an mich, küsste ihn leidenschaftlich, unzählige Male, sodass der arme Etxe schon gar nicht mehr wusste, wo er noch hinschauen sollte. Irgendwann musste ich dann aber zurück nach Zumalabena zum Melken, und nachdem ich mit dem Milchaustragen fertig war, legte ich mich nach der Aufregung eine Weile hin. Ich lag noch keine zehn Minuten, als ich hochschreckte und schrie: ›Es ist gar nicht Eladio!‹«
    »Die Ohren«, sagte Koldobike.
    »Nein. Die Küsse. Im Halbschlaf hatte mich mein Unterbewusstsein an Eladios Küsse erinnert, die so ganz anders waren als die Küsse an jenem Morgen, und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich rannte nach Berango, aber die Tür war verschlossen. Fast täglich lief ich danach zum Hofder Zwillinge, aber er streckte nur immer halb den Kopf aus der Dachkammerluke und nuschelte irgendwas vor sich hin. So verging ein ganzes Jahr, bis er sich eines Tages wohl einredete, dass ich mich jetzt sicher nicht mehr an Eladios Aussehen erinnern könnte, und deshalb kam er dann zu mir und sprach von Hochzeit.«
    Sie hielt inne, wohl weil sie eine Atempause brauchte, sicher aber auch, um von unseren Gesichtern abzulesen, wie wir das mit der Hochzeit aufgenommen hatten. Für sie muss ihr Jawort einen Sinn ergeben haben, doch ihre Entscheidung für Leonardo war nun zum ersten Mal der öffentlichen Moral ausgesetzt, und sie musste für ihr weiteres Leben wissen, wie man über eine Frau dachte, die aus Liebe zu einem Mann einen anderen geheiratet hatte.
    Ich suchte Blickkontakt zu Koldobike, um ihr zu signalisieren, dass sie jetzt bloß nichts sagen sollte, doch sie sah sowieso
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