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Nur Ein Toter Mehr

Nur Ein Toter Mehr

Titel: Nur Ein Toter Mehr
Autoren: Ramiro Pinilla
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Zwilling vor uns kann nicht mit den Ohren wackeln, wie seine schreckensweit aufgerissenen Augenoffenbaren. Also ist er der andere. Und der Ertrunkene er. Nicht zu fassen!
    Eladios Ohrenwackeln: Nicht viele von uns haben es jemals gesehen, wohl aber davon gehört: Er musste nur ein paar Gesichtsmuskeln anspannen, und schon wedelte er mit den Ohren, als wären es zwei Fächer. Dies zu überprüfen, wäre die ganzen zehn Jahre möglich gewesen. Warum haben wir es nie getan? Weil niemand auf die Idee kam, dass dieser Eladio nicht der echte Eladio ist!
    Eladio – ihn Leonardo zu nennen, bringe ich allerdings noch nicht fertig, nicht nur, weil das zu verdauen seine Zeit braucht, sondern weil es am Ende eines Romans immer noch einen Rest Zweifel geben muss – rudert in diesem Moment wild mit den Armen, ja er scheint allen Muskeln seines Körpers befohlen zu haben, sich zu bewegen, sodass er plötzlich in unserer Mitte steht und einen nach dem anderen voller Pathos anblickt, so als wolle er sein Publikum um seine geneigte Aufmerksamkeit bitten, wenn seine Ohren sich gleich in Bewegung setzen würden. Er verfolgt dieses Ziel mit so irrwitziger Entschlossenheit, dass es ihn plötzlich wie bei einem Stromschlag von den Füßen bis hoch zu den Ohren durchzuckt – ohne dass diese aus ihrer Trägheit erwachen. Der echte Eladio hatte für sein Kunststückchen sicher keinen solchen Aufwand betrieben.
    Ist das der Beweis? Ja, ein Richter würde ihn bestimmt gelten lassen. Allerdings wäre die Kette weitaus entscheidender. Ich sehe den Falangisten an, vermag aber seine Gedanken hinter den flackernden Augen nicht zu erraten. Das Einzige, was an dem Zwilling jetzt noch lebendig wirkt, ist das schnaufende Auf und Ab seines Brustkorbs. Wenn ich jetzt schreiben würde, dass er und Bidane sich ansehen, dann wäre das viel zu schwach ausgedrückt. Was für ein schauriger Blickwechsel! Wie haben sie die ganzen zehn Jahremiteinander gelebt? Wer hat hier wen getäuscht? Wer sich täuschen lassen? Oder war dieser Zwilling hier gar Bidanes erster Verlobter, und sie haben gemeinsam den Tod des anderen Zwillings geplant, sodass die Frau von Anfang an Mitwisserin war?
    Leider hat mich die Aufgewühltheit des Moments angesteckt, die Wirklichkeit müsste ich eigentlich viel klarer und besonnener beschreiben. Beobachten wir zum Beispiel diese Frau, wie sie den Mann in die Knie zwingt, mit dem sie so viele Jahre Tisch und Bett geteilt hat. Aus ihrer stoischen Gelassenheit lässt sich schließen, dass sie ihn gerade eine alte Schuld sühnen lässt. Wer weiß, wie lange sie schon darum weiß. Irgendwann muss sie ihn einmal gebeten haben, mit den Ohren zu wackeln – Aus einer Laune heraus? Oder weil sie den Betrug ahnte? Konnte selbst sie die beiden nicht auseinanderhalten? –, und er war dazu nicht imstande gewesen.
    Die Szene ist so aufgeladen, dass das tierische Knurren des Mörders wie ein Peitschenhieb klingt: »Bring die Pappnase endlich um, Luciano!«
    Kaum ausgesprochen, stürzt sich Eladio auf Bidane und beginnt sie mit seinen Pranken zu würgen. Sie wehrt sich wie ein wild gewordenes Tier, Koldobike schlägt mit Fäusten auf den Mann ein, der immer weiter zudrückt, ich will ebenfalls eingreifen – da stellt sich mir das Blauhemd in den Weg und drückt mir seine Pistole in die Nieren.
    »Bring ihn um!«, brüllt der Zwilling wieder.
    »Er bringt Bidane um!«, schreie ich in der törichten Hoffnung, das Herz eines Falangisten zu erweichen, der schon viele zu viele Menschen auf dem Gewissen hat.
    Doch Luciano wiegt nur den Kopf und sieht mich durchdringend an, so als wollte er mir sagen: Tut mir leid, Buchhändler, dein letztes Stündlein hat geschlagen, die Geschichte hat sich nun einmal so entwickelt.
    »Diese Szene ist weitaus schwieriger zu schreiben, als ich gedacht habe.«
    Jäh sind meine Nieren erlöst von dem Druck, als das Blauhemd hinter den Rücken des tobenden Zwillings tritt. Für einen Augenblick ruht der Pistolenlauf unbemerkt auf dessen Nacken, dann ein Schuss, und in der guten Stube wird es schlagartig dunkel. Markenzeichen eines guten Romans.

Epilog
    Er war nur ein Toter mehr: Die Hampelmänner des Regimes bogen es so hin, dass Luciano nicht verurteilt wurde, mit der hinlänglich bekannten Begründung, es sei doch überhaupt nichts passiert.
    Ich selbst hätte auch lieber mit der Wahrheit hinter dem Berg gehalten, diesem Spiel mit den Identitäten, von dem neben Bidane nur wir drei – Koldobike, das Blauhemd und ich –
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