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Nur Ein Toter Mehr

Nur Ein Toter Mehr

Titel: Nur Ein Toter Mehr
Autoren: Ramiro Pinilla
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letztere keine logischen Beschränkungen kennt.«
    Während Lucianos verdrehten Monologs habe ich Eladio nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen. Er hat sich nicht gerührt, keine Miene verzogen. Er hätte zumindest einmal auflachen müssen, und sei es nur, um sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Doch das Lachen ist ihm wohl inzwischen vergangen. Vielleicht vertraut er aber auch darauf, dass ich Luciano den Schwachsinn abkaufe, den er da gerade verzapft hat.
    »So viel Tamtam um einen einzelnen Toten«, seufzt das Blauhemd nun. »Mit diesen zwei Versionen des Falls kann man jedenfalls gut zwei Romane schreiben.«
    »Aber nur einer bildet die Wirklichkeit ab.«
    »Und zu welcher Wirklichkeit gehört diese Kette? Hat sie irgendeine Bedeutung?«
    »Eladio Altube hat mit ihr seinen Bruder ermordet.«
    »Indem er ihm mit der Kette eins übergezogen hat?«
    Mir bleibt also nichts anderes übrig, als ihm ausführlich
meinen
Plot zu erzählen. Als ich fertig bin, dreht sich der Falangist zu Eladio um.
    »Was sagst du dazu?«
    »Was soll ich dazu schon sagen? Sieh dir doch nur mal diese Vogelscheuche in ihrem Anzug an. Der hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank!«, brüllt Eladio mit sich überschlagenderStimme. »Er weiß nicht, wie er die Sache zu Ende bringen soll, in die er ungefragt seine Nase gesteckt hat, und deshalb hat er sich so einen Blödsinn ausgedacht, und das nur, um mir eins auszuwischen. Was glaubt er eigentlich, wer er ist? Gott der Allmächtige? Ich fasse es nicht, warum hat er sich bloß mich ausgesucht?!« Eladio rauft sich die Haare. »Wie ist er überhaupt hier reingekommen? Und wo ist meine Frau? Warum suchen wir nicht ihre Leiche, irgendwo liegt sie hier bestimmt herum … Ich zähle bis drei, du Vogelscheuche, und wenn du bis dahin nicht verschwunden bist, drehe ich dir den Hals um!«
    Schon will er sich auf mich stürzen, Luciano hält ihn aber am Arm zurück.
    »Immer sachte!«, versucht er ihn zu beruhigen. »Wenn hier jemand umgebracht werden soll, dann mache ich das, damit das klar ist. Es geht hier im Übrigen gerade gar nicht darum, ob du jemanden auf dem Gewissen hast oder nicht, was mir persönlich vollkommen schnuppe ist, sondern darum, wie es
in Wirklichkeit
gewesen ist. Die Wirklichkeit sieht und hört man, und diese Kette hier kann man sehen, und wir hören auch ihr Geklirr, sobald wir sie schütteln. Wirklicher und augenscheinlicher kann eine Kette also nicht sein als die, die uns der Buchhändler hier angeschleppt hat. Ihm zufolge waren dein Hals und der deines Bruders daran festgekettet. Stimmt das, oder hat er das erfunden?«
    Eladio nickt erst nach einigem Zögern, weil er mich nicht aus den Augen lässt, so wie ein Raubvogel auf seine Beute lauert. In dieser Szene gibt es nur zwei Figuren, die einen Gegenpol zueinander bilden und durch ihr Verhalten die Handlung bestimmen: ihn und mich. Das Blauhemd ist reine Geräuschkulisse.
    »Dein Bruder ist an dem Felsen krepiert, während sie dich mit den Lungen voll Wasser, aber noch lebendig rettenkonnten. Was ist passiert? Hat irgendwer einen Fehler gemacht? Und wenn ja, wer? Dieser Etxe, der euch an den Felsen gekettet hat? Oder war das alles genau so geplant?«
    Eladio Altube ist anzusehen, dass er seine Worte nun sorgsam abwägt.
    »Wie du es gerade gesagt hast: Ich bin dem Tod nur mit knapper Not entronnen. Das Schicksal musste wählen zwischen meinem armen Bruder und mir …«
    »Wenn ich das richtig gesehen und verstanden habe, dann konntest du gerettet werden, weil dein Kettenende das längere war. Und dennoch war es am Ende fast zu kurz. Dem Täter muss also irgendein Fehler unterlaufen sein.«
    Gänzlich unerwartet geht Eladio Altube jetzt auf Luciano los.
    »Glaubst du diesem Narren etwa mehr als mir? Himmel, Arsch und Zwirn! Du bist mir ein schöner Freund!«
    »He, langsam, du musst keine Angst haben, ich schreibe doch nur einen Krimi, und dafür braucht es nun mal einen Täter. Du kannst ganz beruhigt sein. Selbst wenn am Ende alles darauf hindeutet, dass du der Bösewicht bist, bist du das nur im Roman. Ich werde meinen Kameraden doch nicht hinter Gitter bringen!«
    Was glaubt dieser Falangist eigentlich? Dass er erst die Wirklichkeit heranziehen und sie hinterher ganz nach seinem Geschmack umdeuten oder manipulieren kann? Dieser Zauberlehrling hat noch immer nicht begriffen, wie man einen realistischen Kriminalroman schreibt – auch wenn man das alles natürlich gut verwenden kann, sogar die Bedrohung, die
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