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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit
Autoren: J Zeh
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bis das Geheimnis der Fiedler entschlüsselt sein würde.
    Es wurde Zeit, zum Ankerseil zurückzukehren. Langsam spürte ich auch die Überforderung meiner Sinne. Es waren zu viele Eindrücke. Ich verarbeitete nicht mehr, sondern registrierte nur noch. Ankergeschirr, Ladepfosten, Lüfterköpfe, Deckshaus. Tausende von Goldmakrelen, die sich einen Spaß daraus machten, mich zu verfolgen. Die Schiffsschraube fesselte noch einmal meine Aufmerksamkeit. Ein vierblättriger Bronzepropeller von fünf Metern Durchmesser. Das Ruder, scharf nach links eingeschlagen, wäre in der Lage gewesen, eine ganze Geschichte zu erzählen. Und ich war begierig darauf, sie zu hören. Ich wollte mich auf den Grund setzen, mir Kiemen wachsen lassen, um frei atmen zu können. Die Ausrüstung ablegen und die Kapitänskajüte beziehen. Die Barrakudas hätten bestimmt nichts dagegen gehabt, es gab genug Platz für alle. Das Wrack war groß wie eine Wohnanlage. Ich konnte hier heimisch werden. Schließlich wusste ich, wie das Leben unter Wasser funktionierte. Mir fiel auf, dass ich während der vergangenen Minuten zum ersten Mal seit Tagen weder an Jola noch an Antje oder Theo gedacht hatte. So weit war es gekommen. Jola und Theo hatten Deutschland und damit einen Krieg auf die Insel gebracht, der nicht meiner war. Der mich nichts anging. Trotzdem hatten sie mich zum Kombattanten gemacht. Da oben gab es keinen Ort mehr, an den ich fliehen konnte. Die ganze Insel war ein Schlachtfeld. Ich konnte mich nicht mehr raushalten. Mein Lebensraum war vernichtet worden wie der einer aussterbenden Art. Nur hier unten durfte ich noch sein. Hier fühlte sich alles richtig an. Der Planet Fiedler , von mir selbst entdeckt. Ein Reich, in das mir niemand folgen konnte. Ich musste nur die Ausrüstung ablegen, durch Kiemen atmen und –
    Ich erreichte das Ankerseil. 22 Minuten und 109 Meter als tiefster gemessener Punkt. Nicht gut, aber vertretbar. Anscheinend hatte ich an der Schiffsschraube für einen Augenblick die Zeit vergessen. Mein Atem ging zu schnell. Das musste ich in den Griff kriegen. Ab jetzt galt die alte Regel aus der Bibel: Nicht umdrehen, nicht zurückschauen. Das Wrack hatte mich nicht mehr zu interessieren. Nun durfte es nur noch die Messinstrumente geben, mit deren Hilfe ich die Faktoren Tiefe, Zeit und Gasmischung ins perfekte Verhältnis setzen musste.
    Hand über Hand hangelte ich mich am Ankerseil entlang, anfangs etwas schneller, weil das Seil in der Strömung durchhing, dann langsamer, um die Aufstiegsgeschwindigkeit nicht zu überschreiten. Den ersten Stopp machte ich auf 75 Metern, wechselte die Gase und verweilte weitere zwei Minuten, ohne den Blick vom Tauchcomputer abzuwenden. Die ständige Überprüfung der Parameter nahm meine volle Konzentration in Anspruch. Mit drei Metern pro Minute hoch auf 45 Meter, dort fünf Minuten Pause mit Gaswechsel, weiter auftauchen mit länger werdenden Stopps bis 21 Meter, wo ich zwanzig Minuten warten musste und zum ersten Mal bemerkte, dass die Strömung zugenommen hatte. Arme und Hände schmerzten bereits von der krampfhaften Umklammerung des Ankerseils. Sobald mir das aufgefallen war, glaubte ich, mich keine Sekunde länger festhalten zu können. Mit einer Hand fischte ich die Halteleine aus der Tasche und vertäute meinen Körper mit dem Ankerseil. Anderthalb Stunden waren mit der Koordination von Aufstieg und Stopps vergangen, ohne dass ich zum Nachdenken gekommen wäre.Zum ersten Mal sah ich nach oben. Schräg über mir lag der ovale Rumpf der Aberdeen . Ein beruhigender Anblick. Insgeheim musste ein Teil von mir damit gerechnet haben, mein Begleitboot könnte verschwunden sein. Schwer vorstellbar, dass sich Jola tatsächlich dort oben befand. Der Wunsch, sie zu sehen und ihr von meiner Begegnung mit der Fiedler zu berichten, versetzte mir einen Stich in den Magen. Gleichzeitig spürte ich schon die Enttäuschung darüber, ihr niemals wirklich erklären zu können, was ich erlebt hatte, weil es dafür keine passenden Worte gab. Die ewig dämmrige Welt dort unten, das schlafende Geisterschiff, die gnadenlosen Dimensionen von Vergangenheit, Ozean und Tod – das alles befand sich eingeschlossen in meinem Kopf. Niemand sonst hatte diese Bilder gesehen. Ich würde hart mit Jola arbeiten müssen, damit sie die notwendigen Fähigkeiten entwickelte, um mich eines Tages dort hinunter zu begleiten. Vielleicht konnte sie in ein bis zwei Jahren so weit sein. Dann würden wir auf ewig dieselbe
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