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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit
Autoren: J Zeh
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Wasser schlug, bis zu dem Moment, in dem ich den Haken der Halteleineöffnete, können nur Sekunden vergangen sein. Ich schwamm los, auf Abfangkurs, wobei ich darauf achtete, nicht an Höhe zu gewinnen. Den sinkenden Körper traf ich in sechs Metern Tiefe ein Stück Backbord vom Bug . Mit beiden Händen griff ich zu, bekam Stoff zu fassen und wurde ein Stück abwärts gezogen. Heftig trat ich mit den Flossen, bis ich endlich eine Hand frei bekam, um mein Jacket zur Kompensation des zusätzlichen Gewichts aufzublasen. In Rückenlage schwimmend, schleppte ich den Bewusstlosen zum Ankerseil. Den Bewusstlosen. Mit einer Hand umklammerte ich seinen Brustkorb, mit der anderen vertäute ich mich erneut so fest wie möglich mit Hilfe der Halteleine. Technisches Tauchen, hatte mein Ausbilder immer gesagt, sei die Kunst, alles mit einer Hand zu erledigen. Ohne hinzusehen.
    Die Zeit änderte Tempo und Richtung. Waren die Ereignisse bislang wie in Zeitlupe an mir vorbei gezogen, rasten sie jetzt in Lichtgeschwindigkeit auf mich zu. Im Rückblick sehe ich einen Wirbel, in dessen Mitte ich um ein Leben kämpfe. Vor mir ein Gesicht mit geschlossenen Augen und halb offen stehendem Mund. Ein Unterwassergesicht. Ein Gesicht, das einer Leiche zu gehören schien. Theos Gesicht. Nicht Jolas.
    Von 1992 bis 1995 hatte ich große Teile meiner Semesterferien als Rettungstaucher verbracht. Ich wusste, wie Ertrinken funktionierte. In Phase Eins vollführte das Opfer unkoordinierte Bewegungen, schnappte hektisch nach Luft und schluckte dabei Wasser. In Phase Zwei setzte ein Reflex ein, der den Kehlkopfdeckel schloss. Darin lag Theos Chance. Soweit ich gesehen hatte, war er bereits ohnmächtig ins Wasser gefallen und hatte auf diese Weise Phase Eins übersprungen. Möglicherweise handelte es sich um einen Fall des trockenen Ertrinkens, bei dem kein Wasser in die Lungen gelangte. Die Atemwege von Wasser zu befreien, war schon an Land ein schwieriges Unterfangen. Von dem Versuch, einen Ertrinkenden unter Wasser zu retten, hatte ich noch nie gehört. Aber vielleicht befand sich Theo gerade in der Erstickungsphase, die erst nach zwei bis drei Minuten von Krampfphase und Atemstillstand gefolgt wurde. Wenn das stimmte, konnte ich den Atemreflex durch die Zufuhr von Sauerstoff wieder auslösen, ohne dass Wiederbelebungsmaßnahmen erforderlich würden.
    Das dachte ich nicht. Das wusste ich. Zum Denken blieb keine Zeit. Ich hatte längst auf Trimix gewechselt und hielt den Lungenautomaten mit reinem Sauerstoff in der Hand, um ihn an Theo abzugeben. Die größte Gefahr für uns beide bestand darin, dass Theo zu sich kam und in Panik geriet. Dass Ertrinkende ihre Retter umbringen, ist kein ungewöhnlicher Vorgang. Doch an Selbstschutz war nicht zu denken, solange wir in sechs Metern Tiefe an einem Ankerseil hingen. Es war nicht möglich, Abstand vom Verunglückten zu gewinnen. Nur meine Umklammerung bewahrte Theo davor, in die Tiefe zu sinken. Wenn er anfing, um sich zu schlagen, konnte er leicht meine eigene Luftversorgung abreißen. Er konnte sich panisch an mir festhalten, meine Ausrüstung beschädigen, mich bewegungsunfähig machen. Ertrinkende besitzen übermenschliche Kräfte. Sie sind gefährlicher als jeder Hammerhai.
    In diesem Augenblick geschah es. Ein winziger Moment, der mir zeigte, wer ich in den letzten vierzehn Jahren geworden war.
    Ich zögerte.
    Ich fragte mich, für wen oder was ich im Begriff stand, mein Leben aufs Spiel zu setzen. Für einen Mann, der die Frau terrorisierte, die ich haben wollte. Der sie niemals freigeben würde, weil er sie als sein Eigentum betrachtete. Der keinen richtigen Beruf hatte und niemandem nützte. Der bei jeder Gelegenheit betonte, dass er des Lebens überdrüssig war. Ich musste mich nur raushalten. Theo loslassen und wegschauen, während er stumm in der Tiefe verschwand. Kein Mensch würde mich mit seinem Tod in Verbindung bringen.
    Nur für einen kurzen Moment, aber ich zögerte.
    Dann schob ich Theo den Lungenautomaten zwischen die Zähne. Bemühte mich, seine Lippen so um das Mundstück zu schließen, dass möglichst wenig Wasser eindrang. Ich hielt ihm die Nase zu und betätigte die Luftdusche. Ein Strudel von Blasen. Der Druck pumpte Sauerstoff in Theos Lungen. Plötzlich riss er die Augen auf. Im Salzwasser konnte er nicht viel sehen. Er spürte nur meine Umklammerung, das kalte Wasser, das voraussichtliche Ende seines Lebens. Er grub die Fingernägel in meinen Unterarm und schnellte herum wie ein
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