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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit
Autoren: J Zeh
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nicht engagiert, damit ich dir glaube. Sondern damit ich dir sage, was du tun sollst.«
    Katja hat mir geraten, diesen Bericht zu verfassen. Weil man nicht wissen kann, was noch kommt. Warum hat Theo bislang die Klappe gehalten über das, was an Bord der Aberdeen passiert ist? Vielleicht hat er sich mit Jola versöhnt. Vielleicht erpresst er sie. Oder er fürchtet den öffentlichen Skandal. Aber Mord verjährt nicht. Irgendein Ereignis völlig außerhalb meiner Reichweite könnte Theo dazu bringen, doch noch Anzeige zu erstatten. Und dann wird sich Jola mit dem ältesten aller menschlichen Sätze verteidigen: Das war ich nicht. Sie wird behaupten, dass Theo nichts weiter im Sinn habe, als sie mit Mordvorwürfen zu vernichten, während Sven Fiedler der wahre Schuldige sei, Täter des gescheiterten Anschlags auf der Aberdeen.
    Danach, sagte Katja, stünde Aussage gegen Aussage. Jolas Wort gegen Theos. Die Sympathien der Öffentlichkeit und vielleicht auch der Richter hätte Jola höchstwahrscheinlich auf ihrer Seite. Für den Mordversuch selbst gebe es keine Zeugen, für Spurensicherung sei es zu spät. An dieser Stelle komme das Tagebuch ins Spiel – genau, wie Jola es geplant habe. Das Zünglein an der Waage, geeignet, den finalen Ausschlag zu geben. Natürlich könnte ich das Heft vernichten und behaupten, es habe nie existiert. Sollte Jola schlau genug gewesen sein, eine Kopie anzufertigen, bräuchte ich danach gar nicht mehr versuchen, mich zu verteidigen. Eine solche Lüge wäre ein Freischein in den Knast.
    Damit hatte Katja eine präzise Inhaltsangabe meiner Ängste geliefert. Sie empfahl mir, so schnell wie möglich mit den Aufzeichnungen zu beginnen. Abschnitt für Abschnitt sollte ich meine Version Jolas Tagebucheinträgen entgegensetzen. Andernfalls würde das Gedächtnis bald anfangen, seine eigene Geschichte zu schreiben. Nichts sei korrupter als die menschliche Erinnerung. Erst würden die Details der Ereignisse verschwimmen, dann die Ereignisse selbst.
    »Vielleicht«, meinte Katja, »wirst du eines Tages sogar glauben, dass Jola die Wahrheit sagt, und nicht du.«
    Dabei lächelte sie ironisch. Als Anwältin ist sie wahrscheinlich zu sehr daran gewöhnt, von ihren Mandanten belogen zu werden. Aus Dankbarkeit schlief ich noch zweimal mit ihr. Dann reiste sie ab, zurück nach Nürnberg, wo sie am Landgericht zugelassen ist.
    Gleich am nächsten Tag hängte ich mich ans Telefon und sagte sämtlichen Kunden ab. Ich nahm die Homepage vom Netz und richtete einen E-Mail-Responder ein, der Interessenten darüber informiert, dass die Tauchschule geschlossen ist. Es dauerte nur ein paar Tage, das komplette Inventar zu verkaufen. Ein Kollege in Thailand kannte jemanden, der eine Existenzgründung plant. Ich habe das Beladen der Container veranlasst. Seitdem sitze ich in halbleeren Räumen und habe Zeit. Draußen zeigt sich ein feiner grüner Belag auf den Hängen der Vulkane. Das ist der Inselfrühling. In den Nachrichten reden sie von Eurokrise, Präsidentschaftskrise und Syrienkrise. Als sei die Zeit stehen geblieben. Als hätte sich nichts, aber auch gar nichts verändert.
    Gelegentlich treffe ich Antje beim Einkaufen . Sie sieht gut aus. Ricardo und sie überlegen, ein Häuschen in Tinajo zu erwerben. Todd, der angebunden bei den Einkaufswagen wartet, tut so, als würde er mich nicht kennen. Neulich lief ich Bernie am Eingang des Café Wunder Bar in die Arme. Er beglückwünschte mich zu Antjes Schwangerschaft und lachte über meine Verwirrung. Danach brachen wir einen Rekord. Er sprach das längste zusammenhängende Stück Text seines Lebens, und ich verstand so viele englische Wörter pro Minute wie nie zuvor.
    Dass ich mir nicht einbilden solle, damit durchzukommen, weil nämlich alle wüssten, was passiert sei, und niemand an einen Unfall glaube. Weshalb ich davon ausgehen könne, mein Fett noch abzukriegen, so oder so, früher oder später, auch wenn ich jetzt meine Sachen packte und mich verpisste wie ein feiger Hund. Es gebe Kontakte, man sei vernetzt, man werde dafür sorgen, dass ich nirgendwo auf der Welt ein Bein auf den Boden bekomme. Jedenfalls nicht als Tauchlehrer. Ich sei eine Gefahr für die Kunden und eine Schande für den Sport. Mit anderen Worten, er freue sich auf den Tag, an dem ich die Insel verließe, und da sei er nicht der Einzige, just to let me know.
    Die Vertreibung aus dem Paradies. Darauf gab es nichts zu erwidern. Also ließ ich ihn stehen, mit seiner gedrungenen Gestalt,
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