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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit
Autoren: J Zeh
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Fisch. So gut es ging, schützte ich meine Luftschläuche gegen den bevorstehenden Angriff.
    Aber Theo griff nicht an. Er starrte mir trotz des beißenden Meerwassers aus nächster Nähe ins Gesicht. Sein Kopf war in einen Wirbel aus Blasen gehüllt. So heftig pumpten seine Lungen, dass zwischen Ein- und Ausatmen kaum ein Unterschied bestand. Der Anblick wirkte wie ein Schlüsselreiz. Wir waren Tauchlehrer und Tauchschüler. Mein Schüler hing hyperventilierend an der Notversorgung. Er starrte mich an, weil er mich liebte, so wie hilflose Säuglinge ihre Mütter lieben. Mehrmals drückte ich Theos Oberarm, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Seine Augenlider flatterten. Irgendein Teil seines Gehirns versuchte, sich auf mich zu konzentrieren, und ich nickte lobend: Gut so. Langsam führte ich eine Hand vom Mund weg: Ausatmen. Warten. Führte die Hand zurück an die Lippen: Einatmen. Langsam. Ich zeigte auf ihn und wiederholte die Gesten. Ausatmen. Einatmen. Es dauerte eine Weile, bis er mitmachte. Seine Atmung verlangsamte sich. Wir fanden einen gemeinsamen Rhythmus. Mit einem Mal entspannte sich sein Körper. Er wurde so schlaff, dass ich meinen Griff verstärken musste. Wir hatten es geschafft. Er ließ es zu, dass ich ihn umdrehte. Von hinten konnte ich ihn besser halten. An den Zuckungen seines Rückens spürte ich, dass er weinte. Eilig machte ich mich daran, ihn abzutasten. Der Grund dafür, dass es ihn unerbittlich Richtung Meeresgrund zog, steckte in den Taschen seiner Jeans: Bleistücke, die zu meiner Reserveausrüstung gehörten. Ich entfernte die Gewichte; sie rasten mit hoher Geschwindigkeit in die Tiefe. Ich half Theo, Schuhe und Jeans auszuziehen. In ruhigem Tempo schwebten die Kleidungsstücke in die Dunkelheit unter uns.
    Danach war es ein Kinderspiel, Theo zu halten. Ich löste meine Ersatzmaske vom Band, zog sie ihm über und rückte sie zurecht. Theo legte den Kopf in den Nacken und blies Luft durch die Nase, um die Maske von Wasser zu befreien. Jetzt konnte er mich ebenso klar sehen wie ich ihn. Er hob eine Hand, formte das »ok«-Zeichen und lächelte. Seine Lippen waren blau vor Kälte. Während ich das Signal beantwortete, spürte ich ebenfalls Lust zu weinen. Er mochte ein Arschloch sein, aber seine Tapferkeit war übernatürlich. Er versuchte nicht einmal, pantomimisch zu fragen, warum wir nicht auftauchten. Offensichtlich hatte er mir in den vergangenen Tagen aufmerksam zugehört.
    Die folgenden dreißig Minuten verbrachten wir damit, zwischen den verschiedenen Gasen hin und her zu wechseln, immer wieder den Stand unseres Luftvorrats zu kontrollieren und gemeinsam gymnastische Übungen auszuführen, die Theo vor der Unterkühlung bewahren sollten. Wir beugten Knie, rollten Handgelenke und Schultern, schwammen gemeinsam in kleinen Kreisen um das Ankerseil. Verbunden durch die Luftversorgung wie durch eine Nabelschnur.
    Als meine Deko-Zeit so weit abgelaufen war, dass ich die Tiefe gefahrlos verlassen konnte, gab ich das Zeichen zum Aufstieg. Wieder umfasste ich Theo von hinten und schleppte ihn ein Stück zur Seite, bis wir uns nicht mehr unter der Aberdeen befanden. Mit etwas Sicherheitsabstand vom Boot gingen wir langsam nach oben. Die Luft schmeckte warm und süß. Theo begann zu japsen. Gut möglich, dass er jetzt erst begriff, wo er sich befand und was geschehen war. Nach allen Regeln der Logik hätte er tot sein müssen. Vielleicht wähnte er sich in einem Jenseits, das dem Diesseits zum Verwechseln ähnlich sah.
    Jola stand am Heck und winkte aufgeregt.
    »Verdammte Scheiße! Warum hast du die Deko-Boje nicht steigen lassen? Weißt du, was ich mir für Sorgen gemacht habe?«
    Ich fragte mich, ob sie verrückt geworden war. Aber für Fragen hatten wir keine Zeit. Ich gab Anweisungen. Brachte Theo ans Heck der Aberdeen. Schloss seine Hände um die Holme der Leiter. Er war nicht in der Lage, sich hochzuziehen. Ich erklärte Jola, wie sie ihn fassen musste, und schob von unten nach, bis Theo wie ein nasser Sack aufs Deck schlug. Der letzte Rest Kraft war aus ihm gewichen, er lag da wie tot. Eilig entfernte ich die Sachen, die ich ihm unter Wasser angezogen hatte, Tauchermaske, Kopfhaube, Handschuhe. Jola befahl ich, ihm das nasse Hemd vom Leib zu reißen; danach schickte ich sie Handtücher, Isolationsdecke und Sauerstoffkoffer holen. Sie gehorchte. Theo lag nicht nur da wie tot, er sah auch so aus. Seine Haut wie aus gelbem Wachs, die geschlossenen Augen tief in den Höhlen. Lippen,
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