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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit
Autoren: J Zeh
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    W ir sprachen über Windrichtung und Wellengang und spekulierten, wie der November verlaufen würde. Auch auf der Insel gab es Jahreszeiten, man musste nur genauer hinschauen. Tagsüber sank die Temperatur selten unter zwanzig Grad. Danach kam die wirtschaftliche Situation an die Reihe. Bernie, der Schotte, plädierte für eine geregelte Insolvenz der Griechen. Laura kam aus der Schweiz und fand, dass man kleine Länder unterstützen sollte. Ich interessierte mich nicht für Politik. Um den ganzen Tag Nachrichten im Internet zu lesen, hätte ich nicht auswandern müssen. Laura und Bernie einigten sich darauf, dass Deutschland die neue Wirtschaftspolizei Europas sei – stark, aber unbeliebt. Erwartungsvoll blickten sie mich an. Im Ausland ist jeder Deutsche Angela Merkels Pressesprecher.
    Ich sagte: »Für uns ist die Krise doch längst vorbei.«
    Die Deutschen und Briten fuhren wieder in Urlaub. Es ging uns besser, manchen sogar gut.
    Unsere Pappschilder trugen wir unter den Arm geklemmt. Auf dem Schild von Bernie stand EVANS FAMILY und NORRIS FAMILY. Bei Laura stand ANNETTE, FRANK, BASTI und SUSANNE. Ich hatte an diesem Tag nur zwei Namen dabei: THEODOR HAST und JOLANTHE AUGUSTA SOPHIE VON DER PAHLEN. Die vielen Namensbestandteile hatten kaum auf das Schild gepasst. Die Schilder mussten so klein sein, dass wir sie jederzeit unter den Jacken verschwinden lassen konnten. Ein Inselgesetz zum Schutz der Taxifahrer verbot uns die Abholung von Kunden am Flughafen. Erwischte man uns dabei, zahlten wir dreihundert Euro Strafe. Vor den Glastüren der Ankunftshalle standen die Taxifahrer und behielten uns im Auge. Ihretwegen pflegten wir unsere verdutzten Kunden wie alte Freunde in die Arme zu schließen. Die Anzeigetafel über unseren Köpfen sprang um. 20 minutes delayed. Bernie hob fragend die Augenbrauen. Wir nickten.
    »With much milk«, sagte ich.
    »Lots of«, sagte Laura.
    Seit Jahren versuchte Laura, mir Englisch beizubringen, dabei hatte ich nicht einmal richtig Spanisch gelernt. Bernie war mein schlechtes Englisch egal, solange er mich verstand. Er schob die Hände in die Taschen seiner Shorts und schlenderte zum Kaffeestand. Mit Fünf-Tage-Bart und Wiegeschritt sah er immer aus, als befände er sich an Deck eines Schiffs.
    Wir hatten den Kaffee ausgetrunken, als die ersten Passagiere durch die Absperrung kamen. Bernie wurde von einer Familie umringt. Fünf Personen. Das lohnte sich. Ich hielt Ausschau nach einer eleganten älteren Dame in Begleitung eines weißhaarigen Mannes, der einen Gepäckwagen mit einem Berg farblich aufeinander abgestimmter Koffer schieben würde. Anders konnte ich mir einen Theodor und eine Jolante nicht vorstellen. Wir hatten Exklusivbetreuung vereinbart und uns auf eine Summe geeinigt, die nur zahlen konnte, wer einen großen Teil des Lebens bereits hinter sich hatte.
    Es war immer spannend, neue Kunden am Flughafen abzuholen. Man wusste nie, wer auf die Idee kam, das Tauchen auszuprobieren. Weil Antje die Büroarbeit erledigte, hatte ich mit den meisten im Vorfeld nicht einmal telefoniert. Wie würden sie aussehen, wie alt, welche Vorlieben, Berufe, Lebensgeschichten? Am Meer war es so ähnlich wie im Zug: Man lernte sich in kürzester Zeit verblüffend gut kennen. Weil ich mir angewöhnt hatte, keine Urteile zu fällen, kam ich mit allen gut zurecht.
    Unter die Air-Berlin-Passagiere mischten sich Insassen einer Maschine aus Madrid. Sie waren kleiner, weniger warm angezogen und nicht so blass. Ich hatte Übung im Erraten von Staatsangehörigkeiten. Deutsche erkannte ich mit einer Trefferquote von fast hundert Prozent. Ein Paar kam auf mich zu. Vater und Tochter, dachte ich kurz und sah auf der Suche nach Theodor und Jolante durch sie hindurch, bis sie vor mir stehen blieben. Erst als die Frau auf das Schild in meiner Hand zeigte, begriff ich, dass meine neuen Kunden mich gefunden hatten.
    »Jolante aber ohne H«, sagte die Frau.
    »Sind Sie Herr Fiedler?«, fragte der Mann.
    Ein Taxifahrer beobachtete uns von der Drehtür aus. Ich breitete die Arme aus und zog Theodor Hast an mich.
    »Ich bin Sven«, sagte ich. »Willkommen auf der Insel.«
    Theodor verkrampfte sich, während ich die Luft links und rechts von seinem Gesicht küsste. Ein leichter Geruch nach Lavendel und Rotwein. Dann drückte ich die Frau. Sie war schmiegsam wie ein Stofftier. Für einen Augenblick glaubte ich, sie würde zu Boden fallen, sobald ich sie losließe.
    »Hoppla«, sagte Theodor. »Was für eine
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