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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit
Autoren: J Zeh
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Vorstellung gehörte zu einem Universum, das nicht mehr existierte.
    Das Betreten der Casa fühlte sich an, als versetzte mir jemand einen Schlag in den Magen. Sie waren noch da. Sie hatten nur kurz das Haus verlassen, um ans Meer zu gehen. Jedenfalls behaupteten das ihre Sachen. Alles lag und stand herum, als wäre es noch warm von ihren Händen. Kleidungsstücke auf dem Boden. Die Zahnbürsten im Bad. Ein aufgeschlagenes Buch auf dem Esstisch. Nur der angetrocknete Kaffeesatz in den Tassen verriet, dass Zeit vergangen war.
    Eine Weile ging ich umher, ohne zu wissen, wo ich anfangen sollte. Die ungemachten Betten. Die Reste eines hastigen Frühstücks. Jolas Bikinis über der Stange des Duschvorhangs. Aufräumen und Putzen waren noch nie meine Stärke gewesen. Vor allem aber konnte ich mich nicht überwinden, irgendetwas zu berühren. Die Gegenstände erschienen mir wie Requisiten aus einer Geisterbahn.
    Dann verwandelte sich meine Lähmung in einen Rausch von Aktivität. In Windeseile sammelte ich herumliegende Kleidungsstücke ein und warf sie in die Waschmaschine. Ich räumte die Schränke aus und verteilte die Sachen sorgfältig auf die beiden Rollkoffer. Vorsichtig löste ich Lottes Foto von der Wand. Im Bad packte ich die Kulturbeutel, überlegte nie länger als eine Sekunde, was Jola und was Theo gehörte. Mit einem Mal sortierten sich die Dinge von selbst. Ich wusch das Geschirr und zog die Betten ab, holte frische Bettwäsche aus dem Badezimmerschrank und wollte die Laken neu aufziehen. Zu diesem Zweck hob ich die große Doppelmatratze an, und da lag es. Auf dem Lattenrost unter der Matratze. Ein schwarzes Schreibheft.
    Ich wusste sofort, worum es sich handelte. Die Datierungen. Die Handschrift. Ein paar herausgerissene und wieder eingeklebte Seiten. Ich begann, an beliebiger Stelle zu lesen.
    »Was hätte Lotte getan? Als ich mich aufrichten will, hat er die Hand auf meinem Hals. Ich sage, dass er mich loslassen soll. Er versucht, sich in meinen Mund zu schieben. Ich beiße die Zähne zusammen. Er drückt mir auf den Kehlkopf. Meine Lippen öffnen sich, ich schnappe nach Luft.«
    Ich ließ das Heft fallen, als hätte ich mir die Finger verbrannt. Hob es wieder auf und legte es auf den Tisch. Als die ganze Wohnung gesaugt und gewischt, das Bad geputzt, die Betten gemacht waren und die beiden Koffer fertig gepackt neben der Tür standen, lag das schwarze Heft noch immer dort. Der Inselkommissar wäre in Jubel ausgebrochen. Für ihn war dieser Fund bestimmt. Wenn eine Person auf der Welt das Heft nicht in die Finger bekommen sollte, dann war das ich.
    Offensichtlich hatte Jola damit gerechnet, nicht mehr in die Casa zurückzukehren. Vor allem war sie fest davon ausgegangen, dass ich nicht mehr zurückkommen würde. Wäre Theo wie geplant ertrunken, hätte sie vermutlich gewartet, bis ich an Bord der Aberdeen gekommen wäre, um dann auch mich mit der Wasserpumpenzange niederzuschlagen. Sie hätte mir den Taucheranzug ausgezogen, vielleicht noch ein paar leichte Kampfspuren arrangiert und dann per Funk die Polizei verständigt. Hilfe, mein Lebensgefährte wurde umgebracht! Der Mörder liegt neben mir! 29 Nord, 14 West, kommen Sie schnell! Man hätte mich gleich auf Seeverhaftet und zum Verhör auf die Polizeistation gebracht. Jola wäre als Zeugin mitgefahren. Ich völlig außer mir, sie gut vorbereitet. Ihre Aussage wohlüberlegt und überzeugender als meine. Zwei Rivalen, die an Bord eines Schiffs in Streit gerieten, nachdem sie in den letzten zehn Tagen gelernt hatten, einander bis aufs Blut zu hassen. Dazwischen eine Frau, die vom einen misshandelt wurde, während sie versuchte, mit dem anderen ein neues Leben anzufangen. Die zu schwach war, um die Katastrophe zu verhindern. Jola hätte mich nicht beschuldigt, sondern unter Tränen verteidigt. Bestürzung und Sorge in perfektem Gleichgewicht. Womöglich in fließendem Spanisch. Es ist alles meine Schuld, Señor Comisario. Herr Fiedler wollte mich nur beschützen. Er wusste sich nicht mehr zu helfen, genau wie ich. Ich hätte ihm niemals davon erzählen dürfen. Was würden Sie tun, wenn die Frau, die sie lieben, von einem anderen verprügelt wird? Bitte stellen Sie sich das vor! Was würden Sie tun?
    Ich wäre in Untersuchungshaft verblieben. Der bescheuerte Inselkommissar hätte mir heimlich seinen Respekt ausgedrückt, von Mann zu Mann. Anschließend hätte er sich daran gemacht, Jolas Angaben zu überprüfen. Die halbe Insel hätte er nach unserer
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